Diskussionen unter den Linken
Der Investmentbanker Warren Buffett hat einst die Lage linker Politik auf den Punkt gebracht: „Es herrscht Klassenkampf, und meine Klasse, die der Superreichen, gewinnt.“ Diese Aussage ist so unverschämt wie wahr. Für linke Politik stellt sich darum die Frage, wieso ein Banker vom Klassenkampf spricht und wieso er berechtigt annimmt, dass seine Klasse ihn gerade gewinnt, während auf linker Seite sowohl das Wort Klassenkampf uncool ist als auch ans Gewinnen schon lange niemand mehr glaubt.
Der Artikel bietet eine gute Übersicht über verschiedene Verrücktheiten der Identitätspolitik
Quelle: taz
Anmerkung unseres Lesers U.B.: Hier ein schönes Beispiel, wie die taz aus der sehr differenzierten Rede des Linkspartei-Abgeordneten Hunko einen „Fall Hunko“ macht und die Linkspartei in Verbindung bringt mit „Populismus“. Das Gute bei diesem Text: Ca. 95% der Leserkommentare kritisieren den taz-Autor Stefan Reinecke scharf und widerlegen ihn mit Auszügen aus der Rede von Hunko. Dieser taz-Text zeigt exemplarisch, wie völlig abgelöst von der Realität neoliberale Medien wie die taz jeden, der vom neoliberalen Meinungskorridor auch nur einen Millimeter abweicht, gnadenlos diffamiert. Und dass es offenbar in den Medien ein intoleranter, antidemokratisch-autoritärer Geist vorherrscht. Ich empfehle jeden, die sehr gute und sehr differenzierte Rede von Hunko zu lesen (siehe den Link). Was bitte ist daran skandalös und „ein Fall“ oder „Populismus“?
Der Lockdown einer linken Theorie und Praxis
Dieser Beitrag setzt die Reise entlang der Schlaglöcher und Schlagworte in Corona-Zeiten fort und schaut sich etwas genauer im Spektrum der Linken um: Fehlende inhaltliche Auseinandersetzung. Es ist sicherlich nicht ungerecht, wenn man festhält, dass die Linke im Lockdown nicht existierte.
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Um einiges aktiver ist die Linke beim Sammeln von Statements, Beweisen, Indizien und Fotos. Sie erkennen Neonazis und Reichsbürger auf diesen Protestversammlungen. Sogleich fällt der Vorwurf, dass es sich um rechte Aufmärsche handelt bzw. dass sie "anschlussfähig" zu rechten bis faschistischen Positionen sind.
Inhaltlich ist die Kritik mehr als episodenhaft. Man zitiert aus Flugblättern und Reden. Man macht sich über die dort vorgetragenen Analysen lustig und bemüht sich um ganz besonders abgedrehte Beispiele. Bei der "Heute-Show" durfte sich ein Teilnehmer der Demonstration in Stuttgart mit der Aussage blamieren: "Bill Gates ist noch schlimmer als Hitler."
Dass es viele Berichte gibt, die vieles mehr und anders wahrgenommen haben, wird ziemlich ignoriert. So zum Beispiel der sehr differenzierte Bericht über die "Hygiene-Demos" in Berlin von Gerhard Hanloser (Budjonnys unhygienische Reiterarmee, der unter anderem zu dem Schluss kommt:
Was der Anmelder der merkwürdigen Demos verkündet und was in der ersten Ausgabe der Zeitung "Demokratischer Widerstand" steht, ist zwar auch nicht eindeutig, aber eindeutig nicht rechts. Anselm Lenz erklärt sich und sein Anliegen im Interview mit Ken Jebsen als "antifaschistisch". Außerdem betont er, dass er sich vielleicht irre und in der Rückschau nur ein Alarmist bezüglich der Grundrechtsuspendierung war. Aber dann habe er ja nur Grundgesetze verteilt, das könne ja nicht schaden …
Gerhard Hanloser
Stattdessen will man eisern nur das Schlechtmöglichste gelten lassen. Wenn man diese Methoden auch auf die Linke anwenden würde, dann sähe es auch sehr düster aus.
Nähme man hingegen das Bestmöglichste an, dann stehen auf diesen Demos drei zentrale Aussagen im Zentrum:
Zu allererst geht es um die Grundrechtseinschränkungen und die Selbstentmächtigung des Parlaments als Legislative, die am 25. März 2020 im Rahmen der Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen wurden.
Als zweites werden die Expertenmeinungen, die die Lockdown-Politik der Bundesregierung begründen, für zweifelhaft gehalten. In diesen Kontext fällt das Faktum, dass "Sekundärinteressen", also wirtschaftliche und machtpolitische Interessen, einen Einfluss auf medizinische Analysen und Empfehlungen haben, dass von einer Unabhängigkeit keine Rede sein könne. Diese Skepsis schließt auch die Weltgesundheitsorganisation WHO ein, die zu 80 Prozent von Konzernen und "Privatpersonen" finanziert wird, als auch die Rolle des Multimilliardärs Bill Gates und seiner Stiftung. Zu dieser besonderen Rolle Bill Gates passt es, dass man ihn wie ein Staatsmann behandelt und in der Tagesschau fast zehn Minuten das Wort gibt.
Und als drittes Argument fällt immer wieder der Vorwurf, dass der Corona-Krisenstab eine Wirtschaftskrise, die längst im Gang war, kaschieren soll.
Alle drei Thesen beinhalten im Kern zentrale Punkte für eine linke Debatte - wenn man sich darauf konzentrieren würde, den Fragestellungen nachzugehen, anstatt sich an der schlechtmöglichsten Ausdeutung kaputt zu lachen.
Eigentest für die Linke
Da die Nennung von Bill Gates, seine Bedeutung und Überhöhungen allerlei Deutungen zulassen, möchte ich an dieser Stelle eine Vorgehensweise vorschlagen, die mehr als Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit transportiert.
Denn selbstverständlich liegen wirkliche Macht eines Multimilliardärs und eine geschätzte Überhöhung seiner Macht nahe beieinander. Das geht kaum anders, denn weder Bill Gates noch sonst ein Milliardenunternehmen erklären uns in aller Offenheit, wo und wie sie ihre ökonomische Macht einsetzen. Das Problem, deren Macht richtig und realistisch einzuschätzen, haben nicht nur die TeilnehmerInnen von "Grundrechts-Demos".
Es reicht also ganz und gar nicht, den Menschen auf der Straße vorzuwerfen, dass sie eine Verschwörungstheorie rund um Bill Gates aufbauen, die man je nach Eskalationsgrad auch also antisemitische Ideologie entlarven kann.
Eine Linke, die nicht nur Platzverbote verteilt und rote Linien nachzieht, müsste mehr als Schlagworte raushauen und genau erklären, worin die Macht Bill Gates besteht und um welchen imaginären Anteil es geht, der in der Tat in antisemitischen Ideologien eine zentrale Rolle spielt.
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Was würde also eine linke Kritik auszeichnen? Es ginge darum, die Bedeutung von Bill Gates und seiner Stiftung genau zu benennen. Dabei geht es am allerwenigsten darum, Bill Gates nett, philanthrop oder unsympathisch zu finden. Es geht um die ungeheure Summe, die überall auf der Welt zu einer Macht verhilft, die sich nicht zur Wahl stellen muss, die mit Investitionen und Deinvestitionen mehr erreichen und bewirken kann, als dies geheime Zirkel können.
Zum anderen geht es darum zu erklären, warum das Geraune von einer im verborgenen agierenden Macht die Herrschaftsverhältnisse nicht aufdeckt, sondern verschleiert. Die "Bill Gates" dieser Erde brauchen keine Unterwelt, sie sitzen in den Beraterstäben von Regierungen, sie investieren in Think Tanks und NGOs (Nichtregierungsorganisationen), halten sich Stiftungen, um so auf vielstimmige Weise Meinungshoheit zu schaffen und Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Und genau diese Arbeit aufseiten der Linken steht aus.
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Das betrifft auch den dritten Punkt, die Frage nach den Grundrechten, die mithilfe der Corona-Gesetze eingeschränkt bzw. außer Kraft gesetzt wurden.
Es ist doch leicht, die Schlagworte, die auf den Grundrechtsdemos fallen, einzusammeln und auf die Wäscheleine zum Trocknen aufzuhängen. Da ist von einer "Corona-Diktatur", von einem "Staatstreich" die Rede oder von einem "Merkel-Faschismus". Da fällt dem besagten Hamburger Bündnis gegen Rechts ziemlich wenig ein:
Auch in Hamburg demonstrieren Menschen gegen die sogenannten Corona-Maßnahmen. Die Protestierenden behaupten, das Grundgesetz sei außer Kraft gesetzt und fantasieren die Entstehung einer Diktatur herbei.
Bündnis gegen Rechts
Das war es. Gibt es also gar keine "Corona-Maßnahmen", wenn man sie als "sogenannte" für sub-existent erklärt? Wie würde das Bündnis gegen Rechts die Grundrechtseinschränkungen qualifizieren?
Es ist ganz leicht und es wird einem auch sehr leicht gemacht, die Suche nach Begrifflichkeiten, die diesen Ausnahmezustand zu fassen versuchen, als Fantasien abzutun. Aber was hat die Linke (im und außerhalb des Parlaments) dagegenzusetzen? Hat sie eine eigene Staatsanalyse? Hat sie eine Analyse der "Notstandsmaßnahmen", die es in der deutschen Geschichte schon gab? Was ist vergleichbar, was ist (ganz) anders? Und verfügt die Linke über eine Faschismustheorie oder gar über mehrere, über die sich solidarisch und produktiv streiten könnte?
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Wenn man den Grundrechts-Demos zu recht ein ziemlich diffuses Auftreten bescheinigt, dann wäre ein selbstkritischer Blick auf die eigenen Auftritte eine gute Ergänzung. Wie viel in Gänze unklar, undiskutiert und scheinbar überfordernd ist, macht auch dieses Statement deutlich:
Die politische Situation (in Berlin, d.V.) gestaltet sich eben komplex und unübersichtlich und das nicht erst seit der Corona-Pandemie. Wie umgehen mit der Tatsache, dass die AfD völlig legal Willy Brandt und Sophie Scholl auf ihren Wahlplakaten abbildet und verunglimpft und so zum "Widerstand" aufruft?
"Gender raus! Oder ich werd zum Nazi!" Gastbeitrag Sarah Waterfeld vom Kollektiv "Staub zu Glitzer"
Warum grämt sich das Kollektiv über eine Polizei-Behörde, die solche Wahlplakate nicht verbietet? Wen ruft das Kollektiv für eine wahrhaftige Geschichtserinnerung zu Hilfe?
Warum geht es nur um Symbole und Symbolpolitik und nicht um die Frage, wie die Linke heute den antifaschistischen Widerstand begreift? In welcher Tradition will sie sich bewegen und wie kann und muss heute antifaschistischer "Widerstand" praktiziert werden? Wäre das nicht viel drängender, als die Frage, ob einem die Polizei dabei hilft?
Eine Linke an der Beantwortung dieser Fragen zu erkennen, wäre ein viel produktivere und glaubhaftere Weise, regressive Kritik zu entzaubern, als unentwegt "Querfront", "Verschwörungstheorie" und "Antisemitismus" zu rufen und damit in einer Gesellschaft zu sein, die so unangenehm sein kann, wie die, von der man sich distanziert.
Wenn mal also genau weiß, wie dämlich, ahnungslos und wirr die Kritik an dem Corona-Ausnahmezustand ist, dann stellen sich doch fairerweise die Fragen:
Hat die Linke eine einleuchtende, sehr aktuelle Kapitalismusanalyse? Hat sie sich mit den Entwicklungstendenzen im Kapitalismus in den letzten 30 Jahren auseinandergesetzt? Hat sie analysiert, auf welche Weise die Finanzkrise 2008ff "bewältigt" wurde, welchen Einfluss sie auf die je verschiedenen Nationalstaaten hatte, wie sie das Machtgefüge innerhalb der EU (und auf der Welt) verändert hat und mit welcher Macht die kapitalistische Krise demokratische Institutionen und Prozesse pulverisiert hat (wie zum Beispiel in Griechenland)? Ist die Troika eine Diva aus der Verschwörungskiste oder ein real-existierendes Herrschaftsinstrument? Gibt es so etwas wie eine Troika nicht nur als Aluhutversion, sondern als ein Machtgefüge, das auch heute demokratische Prozesse abwürgt und hintergeht?
Es ist kinderleicht, dazu Menschen auf den Grundrechtsdemos zu fragen und ganz gruselige Antworten zu bekommen.
Aber auf wie viele schlichte, blasse (die schlaue Linke würde sagen) unterkomplexe Analysen würden wir treffen, wenn wir unter uns herumfragen würden, in antirassistischen, antifaschistischen Gruppen, in feministischen und queeren Zusammenhängen?
Man ist sicherlich nicht boshaft, wenn man davon ausgeht, dass das Ergebnis sehr ernüchternd ausfallen würde. Wenn man also von diesem Wissens- und Diskussionsstand ausgeht, kann man die Arroganz und Überheblichkeit spüren, die sich über die Dummheit der anderen erhebt.
Die Linkspartei ist vielfältig, aber das Verhalten der Ko-Chefin Katja Kipping in der Corona-Krise irritiert einmal mehr. Durch wohlgesonnene Medien dominieren sie und ihre Unterstützer aktuell das öffentliche Bild der LINKEN. Und sie beschädigen es durch eine besonders rigide Haltung zum Corona-Lockdown.
Vorbemerkung: Bei einem gefährlichen Virus, dessen tödliches Potenzial auf seriöser Datenbasis festgestellt wurde, kann ein Lockdown angemessen sein. Ist dieses Potenzial transparent dargelegt, so kann man (im Sinne des großen Ganzen) vom einzelnen Bürger Einschränkungen verlangen, wie sie im Moment eingeführt sind. Begleitschäden müssen dann permanent abgewogen werden, grundsätzlich gibt es aber Situationen, in denen individuelle Freiheiten eingeschränkt werden dürfen.
Aber eben diese Grundlage ist im Fall Corona nicht angemessen belegt: Die für die Akzeptanz eines gefährlichen und radikalen Lockdowns nötige Zahlenbasis ist völlig unzureichend und gravierende Begleitschäden spielten bis vor Kurzem keine große Rolle in der Debatte. Darum stehen viele Aussagen zur Ausbreitung und zum Gefahrenpotenzial von Corona unter potenziellem Manipulationsverdacht.
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Fragwürdige Corona-Daten – Stumme Opposition
Der Fakt der unangemessenen Zahlenbasis wäre eigentlich ein Punkt, den eine demokratische Opposition aktuell immer wieder in den Vordergrund stellen müsste: Weil es die zentralste aller Fragen ist: Durch eine Beantwortung würden sich viele der erschöpfenden und moralischen Folgediskussionen erübrigen. Aber seit Wochen werden die Bürger mit diesen Zahlen konfrontiert, ohne dass es deutlich wahrnehmbare Stimmen aus dem Bundestag gibt, die das infrage stellen. Auch nicht aus der LINKEN. Im Gegenteil. Parteichefin Katja Kipping übernimmt in einem Beitrag für einen fortgesetzten und rigiden Lockdown die offiziellen Zahlen für ihre Argumentation, ohne den unseriösen Charakter dieser Datenbasis zu benennen:
„Diese Lockerungswelle droht, uns nur in eine zweite, besonders heftige Infektionswelle zu führen. Und dies birgt große Gefahren für unser aller Gesundheit, wie für die Wirtschaft. (…) Das Setzen auf Durchseuchung ist also ökonomisch fragwürdig und hat zudem menschlich einen hohen Preis: hunderttausende bis über eine Million Tote und womöglich schwere Folgeschäden bei Genesenden.“
Um das Virus mittelfristig „zu stoppen“, müsse die Reproduktionszahl auf unter 0,5 gedrückt werden: „Um die 1 wird nicht ausreichen“. Für Kippings Horrorszenarien gibt es keine verlässliche Datenbasis, die Zahlen geben keinen Anlass für apokalyptische Prophezeiungen. Doch Kipping erwähnt das im Beitrag mit keinem Wort. Stattdessen wird höchst moralisch argumentiert: So werde „die Frage, wie viel Menschenleben das Ankurbeln der Wirtschaft wert ist“, ausgeblendet. Dieser Satz ist doppelt unverschämt: Zum einen, weil er der Lockdown-Kritik die soziale Komponente abspricht: Es soll ja nur „die Wirtschaft“ angekurbelt werden. Zum anderen, weil den Lockdown-Kritikern die vorsätzliche und leichtfertige Gefährdung von Menschenleben unterstellt wird.
Zusammengefasst suggeriert Kipping in dem Beitrag, dass die Politik angeblich auf Basis relevanter Zahlen arbeitet. Und, dass die Kritiker der Lockdown-Politik starke moralische Defizite haben. Besser kann man die Bundesregierung nicht von Kritik abschirmen. Ist das die Aufgabe der Opposition? Von dieser emotional und eben nicht wissenschaftlich begründeten Haltung werden dann auch die guten oppositionellen Forderungen der LINKEN nach einer Vermögensabgabe und einem sozialen Schutzschirm leider überdeckt. Die Positionen der LINKEN zu Corona finden sich etwa unter diesem Link. Eine aktuelle emotionale Gegenrede zur Position der Parteiführung findet sich unter diesem Link.
Mediale Hilfe für Katja Kipping
Eine Begleiterscheinung von Corona ist – auch durch den Ausfall weiter Teile der LINKEN – das endgültige Verstummen der Opposition. Grüne und FDP hatten diese Rolle schon vorher aufgegeben. Aber nun sorgt auch die Haltung der LINKEN-Parteiführung (einmal mehr!) für Kopfschütteln. Man könnte beschwichtigen: Die LINKE ist zum Glück heterogen: Es gibt als Gegengewicht zu Kipping etwa Andrej Hunko oder Sevim Dagdelen oder Fabio DeMasi. Diese LINKEN-Politiker (und viele andere) sorgen ja auch immer wieder für konstruktive politische Interventionen. Aber die Parteichefin kann das überdecken und die Debatte dominieren – auch durch die Hilfe wohlgesonnener großer Medien.
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Die Rechte wird stark, weil die LINKE schwach ist
Auch wenn die Linkspartei wie gesagt heterogen ist, so überlagern einige dominante Stimmen andere, auch dadurch, dass sie von den Medien bevorzugt werden. Der durch die Dominanz von Kipping und ihrem Umkreis erzeugte Eindruck, die LINKE würde drängende, durch den Lockdown verursachte Probleme nicht angemessen wahrnehmen, hat einmal mehr das Potenzial, die Rechten stark zu machen.
Dieser Eindruck kann die Ansicht fördern, die politischen Kategorien rechts und links hätten sich erübrigt. Diese Ansicht führt zu einer ständigen Suche nach neuen Gruppen und Parteien, die die Rolle der Opposition erben könnten. Aktuell ist vor allem „Widerstand 2020“ im Gespräch, eine Partei, die die Kategorien rechts und links ablehnt. Zwar wurden beide Vokabeln durch aggressive Umdeutungen ihres Sinnes beraubt. Aber das ändert nichts an der Feststellung, dass es immer noch widerstreitende (vor allem wirtschafts-)politische Konzepte gibt. Das hat Albrecht Müller gerade in diesem Artikel thematisiert, in dem er relevante Fragen dazu auflistet, etwa: „Solidarität und Mitgefühl oder ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘?“ und „Aktive Beschäftigungspolitik oder der Markt wird’s schon richten?“.
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Zeit für eine Überprüfung
Moral ist bei den beiden Positionen ganz und gar nicht eindeutig verteilt. Den Schutz „der Schwächsten“ können auch die Lockdown-Kritiker für sich reklamieren – im internationalen Maßstab kann daran kaum ein Zweifel bestehen, wenn man die sozialen Folgen in armen Ländern betrachtet. Die Hoffnung auf Erkenntnis und Wandel durch Corona ist groß. Die Gefahr der großen Enttäuschungen angesichts dieser Hoffnungen auch. Darum können Lockdown-Kritiker leicht als neoliberale Spielverderber dargestellt werden, die „nur“ ihr altes Leben wiederhaben wollen: Endlich „zwingt die Wirtschaft sich selbst“ zum Stillstand – wie kann man dagegen nur demonstrieren?! Gegen diese (mutmaßlich naive) Beschreibung ist momentan nur schwer anzukommen.
Im Eifer des Gefechts und angesichts der Wucht der Propaganda waren harte Positionen am Anfang der Corona-Entwicklung sehr nachvollziehbar. Doch müsste nun nicht eine radikale Überprüfung dieser Positionen vollzogen werden – auch und gerade in der LINKEN?
Die Aufforderung Lafontaines zum Nachdenken wurde seinerzeit in den Wind geschlagen. Und auf dem Leipziger Parteitag im Juni 2018 hielt eine Mehrheit der Delegierten demonstrativ an der Forderung nach „offenen Grenzen“ fest. Sahra Wagenknecht wurde zugleich wegen ihrer davon abweichenden Haltung persönlich massiv angegriffen.
Auch die jetzige Warnung Wagenknechts vor einer weiteren Vernachlässigung der an sozialen Fragen orientierten Wähler wird sehr wahrscheinlich ungehört bleiben. Warum sollte man auch ausgerechnet jetzt ihren Rat annehmen? Nach der Neuwahl des Vorstands der Bundestagsfraktion im Herbst wird sie nur noch einfache Abgeordnete sein. Der Machtkampf in der Linkspartei ist entschieden. All jene, deren Links sein sich auf den Kampf gegen rechts, gegen Rassismus, für offene Grenzen, für die Rechte von LGBTQ und andere Minderheiten sowie für eine andere Klimapolitik reduziert, also all jene, die als kulturalistische Pseudolinke bezeichnet werden können, haben in der Linkspartei jetzt freie Bahn.
Es war ein bedauerlicher Fehler, das anfangs so erfolgreiche Projekt Aufstehen nach nur kurzer Zeit versanden zu lassen. Hätte diese Sammlungsbewegung zu den Wahlen zum Europäischen Parlament kandidiert, wäre sie erfolgreich gewesen, denn sie hätte jene ansprechen können, auf die die Politiker der Linkspartei herabsehen. Auch in Brandenburg und Sachsen wäre mit Aufstehen auf den Stimmzetteln der rechte Erfolg einzudämmen gewesen.
Schreyer begründet seine Behauptung in vier Thesen:
1. Gegen rechts zu sein, behandelt Symptome, keine Ursachen
Die zunehmende Radikalität, Aggressivität und Suche nach Sündenböcken, wie sie sich im rechten politischen Spektrum (aber nicht nur dort) beobachten lässt - all das sind Symptome mit Ursachen und einer Vorgeschichte. Sie gedeihen dort, wo das System nicht funktioniert, wo Menschen nicht integriert, sondern aussortiert werden.
Schreyer zitiert den Soziologen Wilhelm Heitmeyer:
In unserem Verständnis geht es erstens darum, ob jemand Zugang zu (...) Arbeit hat und dadurch Anerkennung erwerben und genießen kann. Zweitens stellt sich die Frage, ob man als Einzelner oder als Gruppe bei öffentlichen Angelegenheiten eine Stimme hat und wahrgenommen wird, denn dadurch entsteht moralische Anerkennung als Bürger. Drittens geht es um die Anerkennung der individuellen Integrität und die der eigenen Gruppe, um dadurch emotionale Anerkennung und Zugehörigkeit zum Gemeinwesen zu entwickeln. Unsere Untersuchungen zeigen sehr deutlich: Überall, wo es massive Anerkennungsdefizite gibt, kommt es zu Abwendungen oder Rückzügen. Wer sich in seinen Umgebungen nicht anerkannt fühlt, wendet sich jenen zu, in denen es Anerkennungsquellen gibt. (...) Man muss das immer betonen, und ich tue das seit Langem: Man darf den Begriff Integration nicht reservieren für Migranten und jetzt Flüchtlinge. Auch viele der seit Generationen hier lebenden Deutschen sind nicht integriert, insbesondere was die Anerkennungsgefühle und -erfahrungen angeht.
(Siehe auch: „Integriert
doch erst mal uns!“)
2. Flüchtende, die es bis an die EU-Außengrenze geschafft haben, sind nicht
„mehr wert“, als die Zurückgebliebenen in den Elends- und Kriegsgebieten der Welt
(...)
Die extreme Fokussierung auf die Flüchtenden an den direkten Grenzen der EU offenbart einen Tunnelblick, der psychologisch verständlich sein mag, der aber nicht für gerechte und tragfähige Lösungen taugt. Es ist eben gerade keine vernünftige Lösung für die drängendsten Probleme der Welt, wenn die reichsten Länder unbegrenzt Flüchtende aus armen Ländern aufnehmen. Es ist noch nicht einmal eine gerechte Lösung. Das Problem liegt tiefer.
3. Innerhalb des derzeitigen Wirtschaftssystems lässt sich nicht
„die Welt retten“ - dieses System ist selbst eng mit dem Faschismus verwandt
Der Faschismus ist eine Gefahr und ein radikaler Widersacher der Demokratie - keine Frage. Er spukt in vielen Köpfen. Allerdings wird er nicht bloß in Sachsen oder anderswo in der ostdeutschen Provinz ausgebrütet, sondern vor allem in den internationalen Zentren des Finanzsystems. Rainer Mausfeld nennt in seinem aktuellen Buch "Warum schweigen die Lämmer?" die zahlreichen Gemeinsamkeiten von rechtsradikalem Totalitarismus und modernem Neoliberalismus, also dem heutigen System schrankenloser Geldanhäufung, in dem alles zur Ware wird.
4. Mit Existenzangst sieht die Welt anders aus
Es ist keine Überraschung: Menschen mit konkreter Existenzangst und Perspektivlosigkeit haben andere Prioritäten als ihre besser abgesicherten Mitbürger - zu denen viele der Unterzeichner des eingangs erwähnten Demonstrationsaufrufs gehören. Wenn die relativ besser Abgesicherten propagieren, die Menschenrechte seien "unteilbar" und das vor allem auf Flüchtlinge beziehen, dann fragen diejenigen Menschen, die unter konkreter Existenzangst leiden, wo eigentlich die Solidarität mit den Armen im eigenen Land bleibt.
Diese Darstellung von Schreyers Text ist hier notwendig stark verkürzt, sie soll die Lektüre nicht ersetzen, sondern im Gegenteil den Appetit anregen. Schreyers Artikel ist des Lesens wert.