Lesefrüchte

Dezember 2019

Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind.
Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.

 

  • Analitik: Professionelle Meinungsformung
    Im Artikel untersucht Analitik die Bedingungen, unter denen Menschen dazu verleitet werden können, sich offensichtlich falsche Meinungen anzueignen.
  • Anfang der 50er Jahre wurden in den USA sozialpsychologische Experimente durchgeführt (Video), bei denen sich herausgestellt hat, dass Menschen offensichtlich falsche Tatsachen behaupten, wenn sie in einer Gruppe sind und die Gruppe geschlossen die falsche Meinung vertritt.

    Schauen Sie auf dieses Bild:


    Welche der drei Linien rechts ist genauso lang wie die Linie auf der linken Seite? Das Bild ist absichtlich so konstruiert, dass man fast unmöglich einen Fehler machen kann. Unter normalen Bedingungen machen die Menschen auch keinen Fehler bei dieser Frage. Antwort C ist richtig. Wenn jedoch drei Personen nacheinander die gleiche falsche Antwort geben, dann neigt die vierte Person mit überraschend hoher Wahrscheinlichkeit von über 30% auch dazu, die falsche Antwort anzugeben.

    Beachten Sie, dass es sich dabei nicht um zweideutige Fragen mit Interpretationsspielraum handelt. Die Menschen nehmen eine falsche Meinung selbst bei objektiv leicht erkennbarer Falschheit ein, wenn es die Gruppe geschlossen tut. Sie fühlen sich schlecht dabei und tun es trotzdem. Je mehr sich die Frage der objektiven Überprüfbarkeit entzieht, desto problemloser nimmt ein Mensch die Gruppenmeinung an und desto größer ist der Prozentsatz derer, die sich der falschen Meinung anschließen.

    In der Sowjetunion wurden diese Befunde repliziert. Beide Weltmächte verfügten somit aus erster Hand über dieses Wissen.

    Die Experimente belegen, dass Menschen dazu verleitet werden können, sich offensichtlich falsche Meinungen zueigen zu machen. Stellen Sie sich das Interesse der Geheimdienste und der Politik vor. Die Experimente wurden vorangetrieben, die Rahmenbedingungen wurden untersucht, Methoden der praktischen Anwendung wurden erarbeitet und flossen in die Ausbildung politischer und geheimdienstlicher Kader ein. Auf beiden Seiten des Ozeans.

    Seit den ersten Experimenten sind viele Jahrzehnte vergangen. Die zielgerichtete Formung der öffentlichen Meinung wurde stetig verbessert. Schauen wir uns ein aktuelles Anwendungsbeispiel an: die Ukraine-Krise.

    US-Investor George Soros hat eine PR-Firma angestellt, die in Gestalt des Ukrainian Crisis Media Centers seit den „friedlichen Demonstrationen 2013/2014 die Ukraine-Krise medial begleitet. Das UCMC stellt den Medien Interviews, Texte, Bilder und Videomaterial in großen Mengen zur Verfügung. Im Auftrag eines US-Investors, der sich mit der CIA auf regime change spezialisiert hat. Und alle Medien der westlichen Welt, die zufällig im gleichen Hotel ansässig waren, wie das UCMC, haben sich bequem bedient. Als es aufgeflogen war, haben sie es nicht abgestritten. Nein, sie haben sich damit verteidigt, dass es ALLE großfriedlichen Demonstrationen“ 2013/2014 die Ukraine-Krise medial begleitet. Das UCMC

    So passierte es, dass die westliche Presse eine absolut einheitliche und erlogene Berichterstattung über die Vorgänge in der Ukraine und drum herum ablieferte. Womit die Bedingung erfüllt ist, dass Sie das glauben, selbst wenn sie spüren, dass es faul ist.
    (...)
    Es gibt aber ein Problem für die Meinungslenker. Schon die frühen Experimente haben gezeigt, dass die Menschen sich nur dann eine falsche Meinung aufschwatzen lassen, wenn die Gruppe die falsche Meinung geschlossen vertritt. Ein einziger Ausreißer in einer großen Gruppe, der es wagt, die richtige Meinung zu äußern, zerstört die Wirkung des Experiments weitgehend. Will man die Menschen an eine Lüge glauben lassen, muss die Medienfront wirklich geschlossen sein.

    Finden wir Lücken in der Medienfront? Ja. Zum einen sind das kleine Medien, die den Lügen der Großen entgegentreten. Es gibt sie auch in Deutschland. Die Reichweite der kleinen Medien ist aber so gering, dass sie gesamtgesellschaftlich keine Relevanz besitzen. Noch nicht besitzen. Man darf sie nicht wachsen lassen.
    (...)
    Fragen Sie sich ruhig einmal, warum unsere Medien nicht den Mut haben, abweichende Meinungen einfach stehen zu lassen. Warum unsere Medien nicht auf die Argumente eingehen, sondern die Verschwörungstheorie-Keule schwingen. Warum ein Sender so gefürchtet wird, dessen Budget ein Witz ist im Vergleich zu dem, was allein unseren Öffentlich-Rechtlichen zur Verfügung steht.

    Um die Menschen von einer Lüge zu überzeugen, müssen Sie sich extrem anstrengen. Sehr viel weniger Mühe bereitet es, diesen Prozess zu vereiteln. Wenn von zehn Leuten (Medien), denen Sie zuhören, auch nur einer der offensichtlichen Lüge widerspricht, sind die Mühen der neun Lügner praktisch wirkungslos. Vorausgesetzt, das Wort aller dieser zehn Personen hat in Ihren Augen das gleiche Gewicht.
    (...)

     

  • Warum ist in Sachen Pressefreiheit der Westen ganz SUPER?

     Im jährlichen Ranking von 180 Ländern nehmen west-europäische Länder die vordersten Plätze ein: 1. Norwegen, 2. Finnland, 3. Schweden,... 13. Deutschland, ... 48. USA, ... 149. Russland, ... 177. China, ... 179. Nordkorea, 180. Turkmenistan.

    Dieses Ranking veranstaltet jährlich die NGO „Reporter ohne Grenzen“ (ROG). 
    Thomas Röper hat sich mal angeschaut, wie sie das machen und wer sie finanziert.

    Finanzen: 
    Die zweite Frage vorneweg: Obwohl die Finanzierung alles andere als transparent ist, konnte Röper feststellen, dass „die ROG zum allergrößten Teil offen oder über Umwege von Staaten finanziert werden,“ und zwar „von den Staaten der EU und den USA, also von den Staaten der Nato.“ Röper folgert daraus: „Und wenig überraschend haben die ROG dann auch bei ihren Geldgebern wenig zu kritisieren. Kein kritisches Wort über die wachsenden Einschränkungen des Internets in der EU und den USA. Ich habe mir für meine Seite ganz bewusst eine russische Domain registriert, weil es in Russland viel weniger Regulierung im Internet gibt, als in der EU. Klingt unglaublich, ist aber so.“

    Ranking:
    Röper schreibt: 
    „Man sollte ja meinen, dass es für so eine Rangliste klare Regeln geben sollte, also objektive Kriterien. Zum Beispiel, wie viele Journalisten in einem Land im Gefängnis sitzen oder wegen „unbequemer“ Berichte ihre Jobs verloren haben etc. Die ROG berichten zwar über solche Fälle, aber sie fließen nicht in die Rangliste ein.
    Die „Rangliste der Presseffreiheit“ wird ausschließlich über einen Fragebogen erstellt. Dazu schreiben die Reporter ohne Grenzen selbst:

    „Als Grundlage für die Rangliste hat Reporter ohne Grenzen einen umfangreichen Fragebogen an Hunderte Experten auf allen Kontinenten versandt, darunter das eigene Netzwerk von Korrespondenten, Vertreter von Partnerorganisationen sowie Journalisten, Wissenschaftler, Juristen und Menschenrechtsaktivisten. Es handelt sich jedoch nicht um eine repräsentative Umfrage nach wissenschaftlichen Kriterien.“

    Es ist also keinesfalls eine Umfrage nach wissenschaftlichen oder repräsentativen Kriterien, das sagen die ROG selbst ganz offen. Das habe ich noch nie in der Presse gelesen, wenn alle Jahre wieder der Bericht veröffentlicht wird und die westliche Presse diese Rangliste heranzieht, um auf Staaten wie Russland und andere zu schimpfen.

    Die Rangliste ist also das Ergebnis eines Fragebogens, den die ROG an „Experten“ und „das eigene Netzwerk“ verschicken. Wer diese Experten sind, wird nicht mitgeteilt. Aber das „eigene Netzwerk“ ist besonders bemerkenswert: Es bedeutet, dass sie ihre eigenen Leute und Partner fragen, da sind die Antworten vorhersehbar.

    Wir haben im Falle Deutschlands schon gesehen, dass alle Medienkonzerne den deutschen ROG spenden. Im Kuratorium der ROG in Deutschland ist ebenfalls das Who-Is-Who der deutschen Mainstream-Medien vertreten: Der Intendant des ZDF, der Chefredakteur des Spiegel, der Leiter des Redaktionsnetzwerks Deutschland der Mediengruppe Madsack, der Chefredakteur von Die Zeit, der Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung, der Chefredakteur vom Tagesspiegel, die Chefredakteurin der Frankfurter Rundschau, der Herausgeber des stern, der Chefredakteur der Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe, die Intendantin des rbb, die Vorsitzende der ARD und Intendantin des MDR, und so weiter.

    Das bedeutet, dass die ROB in Deutschland vom Staat, den Medienkonzernen und von nicht genannten Spendern finanziert werden und dass in ihrem Kuratorium auch die gleichen Vertreter sitzen: Intendanten der staatliche Rundfunkanstalten und Führungskräfte der Medienkonzerne. Und die alle finden, dass es in Deutschland mit der Pressefreiheit keinerlei Probleme gibt.“
  • Röpers Fazit:
    „So kontrollieren die westlichen Staaten und deren Presse über selbst gegründete, finanzierte und geleitete Organisationen wie ROG, was für sie Pressefreiheit ist. Man kontrolliert sich selber, macht aber den Eindruck, es würden neutrale Organisationen die Kontrolle ausüben.

    Würden wir es zulassen, dass die chemische Industrie sich Organisationen gründet und finanziert, die dann entscheiden, welche Chemikalien unbedenklich sind? Wohl kaum. Bei den Medien lassen wir es aber zu, dass sie sich quasi selbst kontrollieren. Ist das wirklich Pressefreiheit?“

     

  • Georg Rammer: Gekürzte Menschenwürde

    Ein Vater muss sich vor Gericht verantworten, weil er seinen Sohn immer wieder verprügelt hat. Er rechtfertigt die drastische Prügelstrafe damit, dass er seine Erziehungsziele nur auf diesem Weg durchsetzen kann. Der Richter weist in seinem Urteil auf Paragraph 1631 BGB hin, der solche Methoden für unzulässig erklärt. Jedoch erlaubt er dem Mann, sein Kind im Sinne der Erziehungsziele weiterhin zu prügeln, da die Strafe im Prinzip erforderlich und geeignet sei; allerdings dürfe er keinen Stock verwenden und müsse den nackten Hintern aussparen, denn dies würde gegen die grundgesetzlich garantierte Würde des Menschen verstoßen.

    Diesen Richter gibt es sicher nur in meiner bösen Phantasie. Allerdings verfuhren die RichterInnen des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BverfG) unter seinem neuen Vorsitzenden Stephan Harbarth bei ihrem Urteil hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Kürzung von Hartz-IV-Leistungen genau nach dem skizzierten Muster. Werfen wir einen Blick in die Pressemitteilung des BverfG vom 5. November – einen Blick, der nicht nur auf die juristische Korrektheit achtet, also nicht durch eine déformation professionelle getrübt ist. 

    Zuallererst fällt auf, zu welchen juristisch verklausulierten Spitzfindigkeiten das BverfG greifen muss, um einen logischen Bruch zu überbrücken. Der entsteht dadurch, dass das BverfG in einem früheren Urteil vom 9. Februar 2010 einen Anspruch auf Leistungen zur »Sicherstellung eines unabweisbaren […] Bedarfs« verlangt hatte, der »zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums […] zwingend zu decken ist«. Das Sozialstaatsprinzip sichere »jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind«. Für den Ersten Senat gilt das heute anscheinend nicht mehr. 

    (...)

     

  • Michael Krieger: Drei wesentliche Ungleichgewichte – Finanzen, Vertrauen und Geopolitik

    Vor allem aus dem mittleren Teil „Vertrauen“ sollen hier einige Abschnitte vorgestellt werden. Doch zunächst der Beginn des Artikels:

    Kaum zu glauben dass wir bald 2020 haben. Wenn uns die letzten zehn Jahre etwas gelehrt haben, dann über das Ausmaß, wie weit eine brutale und korrupte Oligarchie geht, um ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Ansprüche auszuweiten und zu festigen. Obwohl es die unzähligen verzweifelten Aktionen des letzten Jahrzehnts geschafft haben, die gegenwärtige Weltanschauung noch ein wenig länger aufrecht zu halten, so kommt das nicht ohne Kosten und langfristige Folgen. Auf verschiedenen Gebieten haben sich gigantische Ungleichgewichte aufgetan und verschlimmert, und deren Auflösung in den kommenden Jahren (2020-2025) wird für Jahrzehnte die Zukunft formen. Heute will ich drei davon diskutieren: Das Ungleichgewicht im Finanzsystem, beim Vertrauen und das geopolitische Ungleichgewicht.
    (...)
    Es scheint, dass wir jeden Tag mit neuen ungeschminkten Enthüllungen aufwachen, wie feige und unehrlich die herrschende Oligarchie und ihre Institutionen wirklich sind. Zum Beispiel haben wir am vergangenen Wochenende erfahren, dass ein Journalist der Newsweek gekündigt hat, weil seine Chefs sich geweigert haben, ihn über die Whistleblower bei der OPCW berichten zu lassen, die die offizielle Schlussfolgerung bestreiten, dass Assad einen Chemieangriff in Douma gestartet hat, ein Ereignis, das zunehmend wie eine False Flag aussieht, was zum US-Bombenangriff auf Syrien geführt hat.
    Das war ein turbulentes Wochenende, denn wir haben auch gehört, wie Nancy Pelosi zugibt, dass sie wusste, dass die George W. Bush-Administration das Land in den Irak-Krieg gelogen hat, aber irgendwie sieht sie das nicht als einen Grund für eine Amtsenthebung.
    Und schließlich erfuhren wir gestern, dass Regierungsbeamte mehrerer Administrationen über die Fortschritte im Afghanistan-Krieg gelogen haben.
    (...)
    Dieses Ungleichgewicht beim Vertrauen zwischen Herrschern und Beherrschten ist so riesig geworden, dass es in den kommenden Jahren auf eine Reihe unerwarteter und konsequenter Arten explodieren wird. Die Wahl von Trump war nur die erste öffentliche Manifestation dieses wohl verdienten Mangels an Vertrauen.
    Der Grund warum die korrupte Oligarchie die Öffentlichkeit permanent belügen muss: Uns davon zu überzeugen, dass wir in einer Welt leben, die es gar nicht gibt. Wir sollen nicht erkennen, dass die USA nicht wie eine konstitutionelle Republik funktionieren, sondern wie eine imperiale Oligarchie. Dieses Wissen ist die verbotene Frucht des Imperiums, von der die Öffentlichkeit niemals kosten darf. 
    (...)
    Und da immer mehr Menschen langsam den Unterschied erkennen zwischen dem, was man ihnen erzählt, und dem, wie die Dinge tatsächlich funktionieren, wird das Ungleichgewicht im Vertrauen größer. Es hat sich bereits stark erhöht und könnte so wie das Ungleichgewicht im Finanzsystem jederzeit in die Luft fliegen.
    (...)

     

  • Daniel Sandmann: Peter Handke. Zum Beispiel

    Der Artikel ist sehr lang, behandelt aber die zweite mediale Aburteilung Handkes, nachdem er den Literaturnobelpreis erhielt, ungewöhnlich tiefgründig und in mancherlei Hinsicht sehr erhellend: u.a. geopolitisch und medienpolitisch. Hier folgen nur ein paar beispielhafte Abschnitte, die keinesfalls die Lektüre des ganzen Textes ersetzen können.

    (...) Nun also, ein Vierteljahrhundert später, wird Peter Handke mit dem Nobelpreis versehen, den er in früheren Jahren kritisch beurteilt hat. Und darauf die Stellungnahme aus den Redaktionen. Von Genozid-Leugner oder Verharmloser ist die Rede. Von Irrsinn und Blackout. Damit wurde Handke schon einmal gekennzeichnet.

    Neu sind Wörter wie Scheiße und Arsch dazugekommen. Nein, nicht in Trump-Tweets, sondern in Beiträgen von Redaktoren und Schriftstellern. 
    (...)
    Handkes "Fall" liegt etwas anders. Die Zersetzung läuft über Worte, die physische Dimension der Demontage bleibt weg. Was nicht unbedingt heißt, Handke wäre weit davon entfernt gewesen - gut denkbar, dass ein Leugnungsparagraph griffe und einer, der gesagt, was Handke gesagt, zöge die juristische und also physische Zerlegungsapparatur auf sich. Vielleicht war es das dünne Seil der Kunst, das Handke über dem Abgrund hielt.

    Das Muster der persönlichen Diffamierung indes zeigt sich sowohl bei Assange wie bei Handke. Ist der Kritiker zum Schläger, zum Schänder oder Vergewaltiger gemacht - über Sexualität ist immer noch viel zu erreichen, die Befreiung gründlich misslungen -, ist seine Kritik an Instanzen, die geopolitisch schlagen und schänden, tot. Alles ganz einfach.
    (...)
    Indes, auch über die geopolitische Dimension war und ist kaum was zu lesen. Logisch, es ginge hierbei ja um Argumente. Ein rationaler Diskurs entstünde. Solschenizyn, Sacharow und wie sie alle hießen, die Dissidenten im Sowjetreich: Sie wurden als System- oder Staatsfeinde gebrandmarkt. Auf die Kennzeichnung als Schläger, Schänder und Vergewaltiger verzichtete der Machtapparat (war das eine der Schwächen jenes Kommunismus?). Systemfeind: Diese Bezeichnung hätte auch Handke verdient. Wie auch der um Maßen brutaler zersetzte Assange.
    (...)
    Die Maßregelung als Eingeständnis. Meine Frage: Stellt am Ende die Wucht des Strafgesangs gerade nicht Handkes Schuld heraus? Mehr noch: Wäre diese Schuldherausstellung auch gar nicht die erste Absicht?

    Könnte die Maßregelung in ihrer Wucht und Einheitlichkeit nicht vielmehr die Disziplinierung im Auge haben? Die Disziplinierung gegen unten? Ein nachhaltiger Aufruf dazu, wie man zu urteilen hat, um nicht abzufallen? Wird am Ende nicht Handke (zu gewinnen ist der eh nicht mehr), werden vielmehr Leserinnen und Leser gemaßregelt? Seht hin, so ergeht es dem, der ausschert.

    Dass ein Denken, das den Korridor des Erlaubten verlässt, Erkenntnisse zu Tage fördert, Erkenntnisse, die wiederum Bestehendes in Frage stellen, das ergibt sich aus dem Wesen des Denkens. Dem Schall der Zurechtweisung käme folglich auch die Funktion zu, solche Erkenntnisse gewissermaßen zu übertönen.

    Nicht zuletzt die Erkenntnis, dass die Maßregelung angeblicher Gewaltverherrlichung, lautstark Handke zugeschrieben, selbst einer Gewaltstruktur entspränge, in die sämtliche Redaktionsstuben eingebunden wären? Und dies, obgleich die Schreiber beteuern, niemand hätte sie gezwungen, dies oder jenes zu schreiben ... - auch Totalitarismus geht mit der Zeit.

    Keinerlei Verweis auf die Forschung. In einer offenen, demokratischen Gesellschaft wäre das Abbilden verschiedener Positionen und Haltungen selbstverständlich. Diese Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, wird der Charakter der "Debatte" um Handke deutlich. In keinem Beitrag, nicht einmal in solchen, die Handke verteidigen (tatsächlich verteidigen, in etwa so: Die literarische Qualität hebt den politischen Irrsinn auf - oder anders gesagt: Ein Poet darf sich irren bzw. es ist ja ein Literaturpreis), in keinem Beitrag also findet Erwähnung, dass Handke mit seiner Einschätzung nicht allein steht.

    Dass es Historiker, Politiker, Dokumentarfilmer und auch Journalisten gibt, die aufgrund von Nachforschungen unter Angabe von Quellen und Dokumenten die einseitige Kriegsschuld als Konstruktion zurückweisen. Einer, der sich in dieser "Debatte" zu Wort meldet, müsste diese Einschätzung nicht teilen, aber auf diese Forschung zu verweisen, Handkes Stellungnahme einzubetten: Das allein wäre redlich.

    Ein solcher Kontext aber striche den Irrsinnigen, den man braucht. Oder aber man käme nicht umhin, alle jene, die Handkes Position stützen oder teilweise stützen, ebenso zu Irren zu erklären. Das wäre zum Beispiel der in der Schweiz lehrende österreichische Historiker Kurt Gritsch, dessen Buch über den Kosovokrieg dem Nobelpreiskomitee offenbar mit zur Einschätzung bzw. Bewertung der politischen Haltung Handkes gedient hat. Weiter Hannes Hofbauer, ebenso Historiker aus Österreich, der sich schwergewichtig mit Osteuropa beschäftigt.

    Das wäre auch der 2017 verstorbene US-Amerikaner Edward S. Herman, ein Professor aus Pennsylvania, der unter anderem zusammen mit Noam Chomsky Bücher veröffentlicht hat. Und auch der Amerikaner Philip Corwin, von Frühjahr bis Sommer 1995 als "Civil Affairs Coordinator and Delegate of the Special Representative for the UN Secretary General for Bosnia and Herzegovina" der höchste UN-Beamte in Bosnien, zählt dazu.

    Diese und viele weitere als Irrsinnige zu bezeichnen, das könnte sich als Bumerang erweisen. Gleichwohl, der Wahn, der aus der "Debatte" spricht, lässt den Schluss zu: Man würde, müsste es sein, auch davor nicht zurückschrecken. Aber der einfachere und sicherere Weg ist zweifelsohne das weitgehende Verschweigen der Tatsache, dass Handkes Position zum Krieg in Ex-Jugoslawien keine singuläre ist.
    (...)
    Die Frage nach dem Cui bono
    Die Frage nach dem Cui bono ist denn auch die meist ausgeblendete bei Berichten über Konflikte. So zum Beispiel auch in Syrien. Sie würde Assad bezüglich der Giftgasangriffen strategisch als Irrsinnigen entlarven, schriebe man ihm diese Giftgasattacken zu, von denen er unter keinen denkbaren Umständen auch nur entfernt hätte profitieren können, ganz im Gegenteil. Man kann natürlich eine Irrsinns-Option postulieren, sollte aber die Implikationen transparent machen.

    Im Balkankrieg führt die Cui Bono-Frage unmittelbar und augenfällig zur bereits erwähnten Tatsache, dass am Ende der Aufteilung Jugoslawiens die NATO über Militärstützpunkte auf dem Balkan verfügte, die sie zuvor eben nicht hatte. Wenn "die Serben" aber nicht die einseitig Bösen gewesen wären, kann die Intervention der NATO auch nicht mehr im Lichte des ausschließlich Guten erzählt werden - und die über den Krieg erreichte militärische Vormacht auf dem Balkan rückte anders in den Fokus. Nämlich nicht als uneigennütziges Epiphänomen.
    (...)
    Dass Serbien, im Bestreben den Status Quo zu halten, diesen Krieg lange vorgeplant und angesteuert hätte: das hingegen scheidet aus. Dafür hätten andere viel reizvollere Gründe gehabt, wie die Cui Bono-Frage zeigt. In sämtlichen Urteilen über Handke aber findet sich nicht die leiseste Andeutung von alledem. Cui Bono gibt es nicht. Geopolitik abseits des einen Narrativs auch nicht. So einfach ist das.
    (...)
    Handke hat seine Stellungnahme als Korrektiv verstanden. Er ist nach Serbien gereist, weil er im europäischen Geistesleben Stereotype zu Lasten Serbiens erkennen musste. Stereotype, die mit Erfindungen ständig neu belebt, genährt und gefestigt wurden. So postulierte man einen Hufeisenplan, der die systematische Vertreibung von Kosovo-Albanern durch Serben belegen sollte. Ebenso wurde die Behauptung in die Welt gesetzt, im Fußballstadion von Pristina hätten die Serben ein KZ eingerichtet. Deutsche Erfindungen.

    Mit Slogans wie Nie wieder Auschwitz sollte die Bevölkerung, vor allem das ehemals pazifistische grüne Klientel für den Krieg gewonnen werden. Selbst das bestimmt nicht NATO-kritische Wikipedia hält fest: bislang keine Belege dafür. Serbien = Hitler-Deutschland: der Vergleich kommt also nicht aus dem Nichts, sondern aus einem Schema, dem nachgeholfen werden sollte. Mit Lügen (nach allem, was man weiß, ist das sachlich die einzig zutreffende Bezeichnung) aus den Ministerien des SPD-Mannes Scharping und des Grünen Fischer.

    Ist es da nicht verständlich, dass sich einer, immerhin einer, zu den Serben gestellt hat? Historisch, geopolitisch und menschlich korrektiv? Und erfährt man von diesen Zusammenhängen irgendetwas in all den Aburteilungen? 
    (...)
    Trost für Handke. Forscher, die das Schema der einseitig bösen Serben in Frage stellen, fanden und finden natürlich nicht nur in der Handke-"Debatte" keine Erwähnung, sie und ihre Publikationen kommen auch sonst kaum vor in Medien, aus deren Redaktionsstuben es nun dröhnt.

    Das ist ein großer Unterschied zur Medienlandschaft, wie sie noch in den 1970ern und 1980ern gegeben war: Auch die andere, scheinbar minoritäre Position fand in einer NZZ, einer FAZ mit Argumenten versehen Erwähnung - und sei es, um die Position nachfolgend zu widerlegen. Diese geistige Pluralität war gerade ein Argument im Diskurs. Und ein Argument für die jeweilige Zeitung.

    Wenn nun Handke abgeurteilt wird, so muss man sich dieser vorangegangen geistigen Bereinigung bewusst sein. Nur in einer gesäuberten Landschaft lässt sich ein Handke als Irrsinniger vorführen. Gleichwohl, das Buch von Kurt Gritsch über den Kosovokrieg hat trotz weitgehender medialer Ausblendung in die Hände des Nobelpreiskomitees gefunden. Und dass diese Leute, die üblicherweise ja durchaus das Narrativ bedienen, dieses Buch auch lesen: fast schon revolutionär in dieser Zeit.

    Aus der Wucht der Handke-Beschimpfung klingt jedenfalls der Schrecken der Getreuen mit, der Schrecken darüber, dass es doch Risse noch gibt im engmaschigen Netz, wo Böses eindringen kann. 
    (...)

     

  • Der Postillon: Politik und Medien geschockt: Sozialdemokraten an die Spitze der SPD gewählt 

    Politiker nahezu aller Parteien sowie Kommentatoren zahlreicher Medien haben am Wochenende geschockt und verstört auf die Nachricht reagiert, dass die SPD zwei Sozialdemokraten an die Spitze der Partei gewählt hat. “Sozialdemokraten an der Spitze der SPD? Sowas gab’s seit 20 Jahren nicht mehr! Das ist ja der komplette Wahnsinn!”, schreibt etwa ein Korrespondent auf zeitbildtagesspiegelschauwelt.de und ergänzt. “Das wird der Untergang dieser stolzen Partei sein, die damals bei 40 Prozent stand und nach zwei Jahrzehnten Agenda-Politik und Neoliberalismus noch von 13 Prozent der Bevölkerung gewählt würde.” […] Experten befürchten, dass der Linksschwenk der SPD langfristig zu einem Abstieg wie dem der portugiesischen (Wahlergebnis: 36,34%) und spanischen (Wahlergebnis: 28%) Sozialdemokraten führen könnte, die derzeit beide mit linken Parteien koalieren. Auch ein grauenhaftes Schicksal wie das der britischen Labour-Partei, die bei der letzten Wahl 40% erreichten (aktuelle Umfragen: 33%), sei nicht auszuschließen.

     

  • Thomas Röper: Politik wie bei der Mafia: Die USA erpressen Schutzgeld von ihren „Verbündeten“
  • Ich habe das Problem schon öfter thematisiert. Ein souveräner Staat kann zum Beispiel selbst entscheiden, welche Waffen andere auf seinem Gebiet stationieren dürfen, eine Kolonie der ein Vasall kann das nicht, sie müssen sich dem „Herrn“ unterordnen. In Deutschland ist eine Mehrheit der Menschen für einen Abzug der US-Atomwaffen und auch der Bundestag hat die Regierung schon 2010 mit großer Mehrheit aufgefordert, sich für einen Abzug der US-Atomwaffen einzusetzen. Aber passiert ist nichts. Ich habe die generelle Problematik und wie davon abgelenkt wird, dass Deutschland und im Grunde die ganze EU nichts als Vasallen der USA sind, ausführlich analysiert.
    (...)
    Die Dreistigkeit der USA wurde in letzter Zeit immer deutlicher. So haben Vertreter der US-Regierung im März allen Ernstes gefordert, dass Deutschland die gesamten Kosten für die in Deutschland stationierten US-Truppen übernehmen solle, „plus 50 Prozent„. Was wie ein schlechter Scherz klingt, war aber ernst gemeint.
    (...)
    Jetzt, acht Monate später, machen die USA ernst. Vor ca. zwei Wochen haben die USA von Japan gefordert, seine Zahlungen an die USA für die dort stationierten US-Truppen um mehr als das Vierfache von 1,8 Milliarden auf 8 Milliarden Dollar zu erhöhen. Auch in Südkorea machen die USA derzeit Druck, damit Südkorea, dass seine Schutzgeldzahlungen an die USA erst 2019 um fast 9 Prozent auf über 900 Millionen Dollar erhöht hat, weiter erhöht. Südkoreanische Medien melden, dass die USA eine Erhöhung auf das Fünffache, also auf 4,7 Milliarden, fordern. Um den Druck zu erhöhen, drohen die USA Südkorea mit Abzug von 4.000 der 28.500 in Südkorea stationierte Soldaten.
    (...)
    Ein Staat wehrt sich in den letzten Jahren gegen die Vasallenrolle, die die USA ihm zugedacht haben, die Türkei. Die Türkei hat, nachdem die USA den Verkauf von Patriot-Raketen abgelehnt haben, die Frechheit besessen, sich in Russland die S-400 zu bestellen. Das ist ein russisches Flugabwehrsystem, das nicht nur besser als die Patriots ist, sondern auch noch billiger. Eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung, aber es kommt eben aus Russland und da hört in den USA der Spaß auf. Die USA und die Türkei streiten schon lange über dieses Thema und es gibt sogar schon ein Gesetz in den USA, das deswegen Sanktionen gegen die Türkei vorsieht. Noch wurde es aber nicht angewendet. 
    (...)
    Einen beeindruckenden Einblick in das Selbstverständnis der USA geben nun offizielle Äußerungen einflussreicher US-Senatoren. Die haben verkündet, man müsse das Gesetz über Sanktionen gegen die Türkei nun endlich zur Anwendung bringen, weil die Türkei darauf besteht, die gekaufte und gelieferte System S-400 auch in Dienst zu stellen. Die Senatoren Van Hollen und Graham haben einen Brief an das Pentagon geschrieben, in dem es heißt:

    „Die Zeit der Geduld ist längst abgelaufen. Es ist an der Zeit, dass Sie das Gesetz anwenden (…) Wenn Sie dies nicht tun, sendet dies ein schreckliches Signal an andere Länder, dass sie die US-Gesetze ohne Folgen missachten können.“ 

    Die USA sind also der Meinung, dass andere Länder die US-Gesetze befolgen müssen. Deutlicher kann man das nicht formulieren: Wenn „US-Verbündete“ die US-Gesetze nicht befolgen, werden sie bestraft. Wie kann man da noch von souveränden Staaten sprechen? Das ist die gleiche Sprache, die man in London vor 150 Jahren gegenüber den Kolonien benutzt hat. 

    (...)

     

  • Martin Sonneborn: Warum ich die EU-Kommission ablehnen werde

    Der Satiriker im EU-Parlament (schon in der zweiten Legislatur) begründet seine Haltung, dabei ist nur der erste Satz  als Satire zu verstehen. Der Rest zeichnet ein erschreckendes Bild von „Interessenkonflikten, Rechtsbruch und illegalen Machenschaften“ (Marco Wenzel NDS). Hier eine längere Leseprobe:

  • Am Mittwoch stimmt das Europäische Parlament in Straßburg über die neue EU-Kommission ab. Wenn bis Dienstagabend, 23.59 Uhr, keine Angebote in Millionenhöhe eingehen, werde ich gegen sie votieren.

    Die designierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat erklärt, sie wolle ihre Kommission paritätisch mit Männern und Frauen besetzen. Wichtiger wäre, paritätisch dahingehend zu besetzen, dass zumindest die Hälfte der Kommissare über ausreichende moralische Integrität verfügt, nicht vorbestraft ist, sich nicht gerade vor einem Untersuchungsausschuss verantworten muss und kein Millionenvermögen besitzt, das zu Interessenskonflikten führen könnte.

    Es besteht eine bestürzende Deckungsungleichheit zwischen den offiziellen Verlautbarungen der EU-Kommission und dem, was sich im öffentlichen Diskurs der Entsendestaaten über die designierten Kommissare findet. Die fehlende gesamteuropäische Öffentlichkeit verhindert fundierte Kritik.

    Statt Erklärungen gab es leere Zettel
    Meine französische Kollegin Manon Aubry berichtet aus dem Justizausschuss, der traditionell den finanziellen Hintergrund sämtlicher Kandidaten prüft, bei der geforderten „Erklärung der finanziellen Interessen“ hätten neun Kommissare „unvollständige, verdächtige oder geradezu schockierende Erklärungen“ abgegeben, vier lediglich einen leeren Zettel, weitere vier besitzen Anteile an Unternehmen, die als Lobbyisten Einfluss auf die EU-Politik zu nehmen versuchen (Bayer, ENI). Zwei Erklärungen stehen in offenem Widerspruch zu früheren Erklärungen.

    Als von der Leyen kürzlich vor die Presse trat, um eine Eloge auf Macrons Personalvorschlag Sylvie Goulard zu halten, eine ehemalige Parlamentskollegin von mir, wurde diese gerade auf einer Polizeiwache in Nanterre verhört. Es ging um eine gesetzwidrige Bezahlung fiktiver Assistenten aus EU-Mitteln. Als die Affäre 2017 publik wurde, musste Goulard als frisch ernannte Verteidigungsministerin nach nur vier Wochen im Amt zurücktreten. Merke: Für die französische Politik ist Sylvie nicht sauber genug, für Europa reicht’s! Beziehungsweise auch nicht, denn das Parlament lehnte sie ab.

    (...)

     





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