Lesefrüchte
November 2025
Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind und zitieren Auszüge. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.
Lesefrüchte im vergangenen Monat
Wolfgang Bittner: Ist Deutschland souverän? Kann Deutschland neutral werden?
Wolfgang Bittner: Ist Deutschland souverän? Kann Deutschland neutral werden? Versuch einer Klärung
Was hat es mit dem immer öfter zu hörenden Ruf nach einem bündnis- und blockfreien Deutschland auf sich? Könnte das heutige Deutschland tatsächlich aus der NATO austreten? Bestehen dafür die Voraussetzungen, und zwar nicht nur auf dem Papier? Wie souverän ist also das Land in der Mitte Europas?
Jüngst ist der Ruf nach einer Neutralität Deutschlands aufgekommen, die bereits 1952 von Josef Stalin vorgeschlagen worden war. Damals hatte er den anderen drei Hauptsiegermächten des Zweiten Weltkriegs das Angebot unterbreitet, über einen Friedensvertrag mit Deutschland zu verhandeln. Bedingung war die Neutralität eines künftigen vereinten Deutschlands gewesen, die unter polnischer Verwaltung stehenden Ostgebiete ausgenommen. Da zur selben Zeit unter der Regierung Adenauer in Geheimverhandlungen bereits die Wiederbewaffnung und der Beitritt zur NATO beschlossen worden waren, hatten die westlichen Alliierten den sowjetischen Vorschlag boykottiert. Auch Konrad Adenauer hatte ihn als unseriöses "Störmanöver" zurückgewiesen, mit dem die Westintegration der BRD blockiert werden sollte, und damit die Chance für eine selbstbestimmte deutsche Politik vergeben.
Stattdessen blieben die beiden deutschen Relikte, denen von den Siegermächten nach der bedingungslosen Kapitulation die Souveränität aberkannt worden war, unter Fremdbestimmung, die erst nach und nach gelockert wurde. Nach herrschender Meinung erhielt dann die Bundesrepublik Deutschland als "mit dem Deutschen Reich identisches Völkerrechtssubjekt" durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 die "volle Souveränität" zurück (Artikel 7, Absatz 2), sodass – theoretisch – eine Neutralität Deutschlands heute erreichbar wäre.
Das ist die offizielle Faktenlage. Aber die Zubilligung der Souveränität ist durch Zusatzverträge, zum Beispiel den Truppenstationierungsvertrag, die NATO-Mitgliedschaft, das Militärbündnis für "Ständige Strukturierte Zusammenarbeit" (PESCO), sonstige militärische und wirtschaftliche Vereinbarungen sowie die übergeordnete EU-Gesetzgebung relativiert worden. Insbesondere der außenpolitische Handlungsspielraum ist aufgrund der alliierten Vorbehaltsrechte und Einflussmöglichkeiten eingeschränkt.
Zwar können Abkommen wie der Truppenstationierungsvertrag oder der NATO-Vertrag gekündigt werden, Deutschland könnte auch aus der EU austreten, es ist jedoch außerordentlich fraglich, ob eine deutsche Regierung diesen Schritt wagen würde bzw. sich gegenüber den USA und Großbritannien behaupten könnte. Bekannt ist außerdem, dass sich die USA an keine Verträge halten, sobald sie ihrer jeweiligen Regierung nicht mehr passen.
Im Völkerrecht ist Souveränität nach älterer Rechtsauffassung die absolute Hoheit eines Staates über sein innen- und außenpolitisches Handeln. Das ist für Deutschland erkennbar nicht gegeben. Doch nach neuerer völkerrechtlicher Auffassung kann ein Staat durch Verträge mit anderen Staaten von bestimmten Rechten absehen, also eine Einschränkung seiner Souveränität selbstbestimmt vornehmen. Das könnte für Deutschland infrage kommen. Allerdings sind verschiedene Einschränkungen, denen Deutschland unterliegt, nicht
selbstbestimmt.