Lesefrüchte

Juni 2020

Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind.
Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.

 

  • Andreas von Westphalen: Was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß

    (...)
    Wer keine Fragen stellt, erhält auch keine Antworten
    Die Notwendigkeit der Abwägung von Risiken ist ein zentraler Bestandteil der Risikoethik. Aber auch ohne philosophische Fachkenntnisse weist der gesunde Menschenverstand auf die geradezu existentielle Bedeutung der Einschätzung und Abwägung der Risiken hin. Angesichts des sich ausbreitenden Covid-19-Virus stand die deutsche Regierung spätestens Anfang März, wie so viele andere Regierungen auch, vor der entscheidenden Frage, welche Maßnahmen sie angesichts der gegenwärtigen Krise treffen sollte.

    Selbstverständlich wurden Prognosen an Epidemiologen und Virologen in Auftrag gegeben, um das Risiko der sich ausbreitenden Infektion möglichst genau einschätzen zu können. Aufgrund der wissenschaftlichen Prognosen wurde schließlich der Lockdown als eine Art ultima ratio beschlossen (dessen vorübergehende Notwendigkeit Nida-Rümelin keineswegs bestreitet). Aber erstaunlicherweise unternahm die deutsche Regierung - außer der Berechnung des zu erwartenden Wirtschaftseinbruchs - offiziell keinerlei Versuch, wissenschaftliche Prognosen über die negativen Folgen eines möglichen Lockdowns zu erhalten. Damit ließ sie aber die Forderung der Risikoethik nach möglichst genauer Einschätzung eines Risikos außer Acht, so dass eine Abwägung gar nicht stattfinden konnte. Frei nach dem Motto: Was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß.

    (Da das Bundesinnenministerium betont, die Analyse von Stefan Kohn, einem ehemaligen Referatsleiter, sei auf dessen Eigeninitiative und nicht im Auftrag geschehen und daher eine Privatmeinung, gibt es offiziell keinen Versuch der Einschätzung der negativen Folgen des Lockdowns.)

    Eine verantwortungsvolle Politik hätte aber zwingend versuchen müssen (auch im Verlauf des Lockdowns), die negativen Folgen des Lockdowns einzuschätzen und daher Experten beauftragen müssen, Antworten auf Fragen wie diese zu finden:

    - Wie viele Menschen sterben voraussichtlich aufgrund fehlender medizinischer Versorgung, da wichtige Operationen verschoben werden müssen, um Krankenhauskapazitäten für Covid-19-Patienten freizuhalten?
    - Wie viele Menschen (gerade ältere) werden voraussichtlich aufgrund der sozialen Isolation sterben?
    - Wie viele Menschen werden voraussichtlich aufgrund der Isolation im Shut-down Selbstmord begehen?
    - Wie viele Menschen werden voraussichtlich sterben, weil aufgrund fehlender medizinischer Vorsorge eine sich ankündigende tödliche Krankheit nicht entdeckt wurde?
    - Wie viele Menschen werden sich voraussichtlich aufgrund ihrer plötzlich katastrophalen wirtschaftlichen Lage selbst töten?
    - Um wie viele Lebensjahre wird voraussichtlich die Lebenserwartung der Menschen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Gesamtsituation im Schnitt sinken?
    - Um wie viele Lebensjahre wird voraussichtlich die Lebenserwartung der Menschen aufgrund der gesundheitsschädigenden Erfahrung des Lockdowns im Schnitt sinken?
    - Wie viele Menschen werden voraussichtlich zusätzlich von Alkohol oder anderen Drogen abhängig werden?
    - Wie viele Menschen werden voraussichtlich zusätzlich kriminell werden? Wieviele zusätzliche Morde wird es zusätzlich geben?
    - Wie viele Menschen werden voraussichtlich zusätzlich an Depressionen erkranken?
    - Welche wirtschaftlichen Folgen hat der Lockdown voraussichtlich auf die Berufsqualifikation all der Jugendlichen, Auszubildenden und Studenten, die sich gerade in der entscheidenden Ausbildungsphase befinden?
    - Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse hat man derzeit über die zu erwartenden negativen Folgen des Lockdowns gerade auf Kleinkinder und Kinder?
    Und folgende Fragen stellen sich für die Konsequenzen des Lockdowns jenseits der deutschen Grenzen:

    - Wie viele Menschen werden weltweit voraussichtlich verhungern, weil die internationalen Lieferketten durch den Shut-down zusammengebrochen sind?
    - Wie viele unter die Armutsgrenze sinken?
    - Wie viele Menschen werden weltweit voraussichtlich zusätzlich sterben, weil lebensrettende Impfungen wie Polio, Cholera, Diphterie oder Tetanus nicht stattfinden können?
    Diese Liste erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit, sollte aber ausreichend Eindruck über den Horizont der weitreichenden und komplexen Konsequenzen des Lockdowns geben. Die Tatsache, dass es offiziell in Deutschland (und nach Kenntnis des Autoren in keinem anderen Land) den Versuch einer wissenschaftlichen Einschätzung dieser Fragen gegeben hat, bevor der Lockdown angeordnet wurde, und in Deutschland offiziell bis heute auch kein Versuch unternommen wurde, Antworten zu finden bzw. überhaupt Fragen zu stellen, lässt deutliche Zweifel an der Verantwortlichkeit der Politik aufkommen. (Wohlgemerkt: Es geht an dieser Stelle in keiner Weise darum, die Notwendigkeit des Lockdowns in Frage zu stellen oder genüsslich aus der Rückperspektive darauf hinzuweisen, was eine Regierung alles im komplexen Entscheidungsfindungsprozess übersehen oder falsch eingeschätzt hat. Es geht um eine grundsätzliche Unterlassung eines entscheidenden Aspektes der verantwortungsvollen Entscheidungsfindung).

    Erste Hinweise
    Knapp drei Monate nach Beginn des deutschen Lockdowns gibt es nun eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Studien über die negativen Folgen. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Studien der Universität Berkeley, der Columbia University sowie des Imperial College London, jeweils zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Lockdown-Maßnahmen die Ausbreitung von Covid-19 und die Zahl der Toten reduziert haben.

    Auch wenn viele erste Einschätzungen natürlich vorläufiger Natur sind (denn viele Folgen werden erst in einiger Zeit sichtbar werden) und sich nicht nur auf Deutschland beziehen, geben die Zahlen dennoch einen deutlichen Eindruck über das mutmaßliche Ausmaß des Lockdowns.

    Alzheimer vergessen
    Die erste Gruppe, die massiv unter dem Lockdown zu leiden hatte, ist ausgerechnet eine Risikogruppe von Covid-19, die der Lockdown besonders schützen wollte: Ein Drittel der Übersterblichkeit in England und Wales, 10.000 Menschen, waren Alzheimerkranke, aber nicht mit Covid-19 infiziert. In April verstarben ganze 83 Prozent mehr Menschen mit Alzheimer als in Vergleichsmonaten. Der "Guardian" erklärt dieses erschreckende Phänomen: "Eine von der Alzheimer-Gesellschaft in 128 Pflegeheimen durchgeführte Umfrage zeigt, dass 79 Prozent berichten, mangelnde soziale Kontakte verursachen eine Verschlechterung der Gesundheit und des Wohlbefindens ihrer Bewohner mit Demenz. Angehörige von Menschen mit Demenz in Pflegeheimen haben darüber gesprochen, dass sich ihre Angehörigen verwirrt und verlassen fühlen, dass sie aufhören zu essen und die Fähigkeit zu sprechen verlieren." 
    (...)

    Absehbarer Schaden
    All die aufgeführten negativen Konsequenzen des Lockdowns sind keine unvorhersehbaren Überraschungen, und es hätte nahegelegen, die entsprechenden Spezialisten mit einer Prognose zu beauftragen, um möglichst verantwortungsvoll abwägen und entscheiden zu können. Es geht hierbei keineswegs um ein ethisch mehr als fragwürdiges quantitatives Gegeneinanderaufrechnen von Menschenleben, sondern schlicht darum, sich in die Lage zu versetzen, möglichst genau die Schäden und Risiken der jeweiligen Entscheidungsoptionen einschätzen zu können. 
    Der Journalist Markus Feldenkirchen kritisiert daher zu Recht: "Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche haben viele Menschenleben gerettet, das ist unbestritten. Aber sie haben auch Menschenleben gekostet. Sie haben Bürgern, die sich nie mit dem Virus infiziert haben, körperlich und seelisch geschadet. Mit Blick auf die Gesundheit aller Bürger hätten die Maßnahmen wohl differenzierter ausfallen müssen. Die Kommunikation hätte weniger stark auf Angst und mehr auf Aufklärung setzen sollen: darüber, was die Folgen verschobener Operationen oder ausgefallener Untersuchungen sein können." 
    Und Gabor Steingart zieht das Fazit über die fehlende Einschätzung und Abwägung: "Die Regierung mit ihrer Strategie des One-Size-Fits-All ist begründungspflichtig geworden. Und all jene Medien, die bisher wie Groupies dem Gesundheitsminister applaudieren, sind es auch. Der Aufsteiger Jens Spahn muss nicht verbal zerstört, wohl aber kritisiert werden." 

    Dritter Weg
    Eine möglichst genaue Einschätzung der negativen Folgen durch den Lockdown sind auch nach dessen Ende von besonderer Bedeutung. Denn zum einen können Teilaspekte sehr wichtig für die Entscheidungen sein, wie schnell nun die Gesellschaft in allen Aspekten möglichst zu einer neuen Normalität zurückkehrt, zum anderen um möglichst klare Lehren für die Zukunft zu ziehen. 

    Die Betrachtung und Abwägung der Risiken angesichts der drohenden Ausbreitung von Covid-19 und der möglichen Antwort auf den Lockdown sind aber auch in einer weiteren Hinsicht hilfreich: Sie führen zu einer möglichen Strategie, die kaum von Regierung und Öffentlichkeit diskutiert wurde, aber sich durchaus als die Alternative erweisen kann, die die geringsten Risiken und Schäden gezeitigt hätte. Eine Strategie, die Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer unterstützt, und die Julian Nida-Rümelin schon sehr früh vorschlug: "Cocooning" statt "social distancing". Die Menschen, die zu den Risikogruppen gehören, sollten "systematisch und konsequent geschützt werden", wobei "diese Menschen auch selbst entscheiden können, ob sie ein Infektionsrisiko eingehen oder nicht. Cocooning heißt nicht soziale Isolation, (...) sondern lediglich räumliche Distanz wahren und alles tun, damit jedes Infektionsrisiko minimiert wird." 

    Die Menschen hingegen, die nur ein sehr geringes Gefährdungsrisiko haben, sollten hingegen möglichst ihrem Leben normal nachgehen können. "Das Ganze ist nur verantwortbar, wenn Cocooning funktioniert. Die Strategie, die ich vorschlage, ist nicht zynisch. Sie wägt nicht ab zwischen Ökonomie und Gesundheit, sondern sie hat beides im Blick: das Bedürfnis nach Kontakt, die Notwendigkeit von Bildung, ökonomischer und sozialer Aktivität einerseits - und das Leben der Gefährdeten andererseits." Für Nida-Rümelin ist Cocooning "die einzige langfristig rationale Strategie." 

     

  • Thomas Röper: Die Verlogenheit der EU in Sachen Rassismus

    Die Schlagzeilen werden seit Wochen von einer Rassismusdebatte dominiert und alle Welt entschuldigt sich für Dinge, die vor Hunderten von Jahren geschehen sind. Aber gleichzeitig lehnen die EU-Staaten in internationalen Gremien Resolutionen gegen Rassismus mehrheitlich ab. Das allerdings verschweigen die „Qualitätsmedien“.

    Derzeit ist Rassismus in aller Munde. In den USA haben Städte gebrannt, in Europa gab es große Demonstrationen gegen Rassismus und als am letzten Wochenende in Stuttgart amerikanische Zustände herrschten und die Innenstadt geplündert wurde, da fiel den „Qualitätsmedien“ nichts besseres ein, als zu fragen, ob nicht auch diese Unruhen eine Folge von Rassismus wären.

    In westlichen Ländern werden Denkmäler von historischen Personen abgerissen oder beschädigt und die Medien finden das verständlich, weil es ja gegen angebliche Rassisten geht. Sogar Gandhi – der in seiner Jugend ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat – ist neuerdings ein Rassist und Sexist. Aber selbst wenn es Rassisten waren, was ändert es, ihre Denkmäler abzureißen? Wer die Situation der von Rassimus Betroffenen verbessern will, der sollte nicht über das nachdenken, was vor 300 Jahren war, sondern über das, was heute geschieht!

    Was heute geschieht, nennt sich Globalisierung und es ist nichts anderes, als der „der gute, alte“ Kolonialismus (und damit Rassismus) unter einem neuen Namen, wie ich hier aufgezeigt habe. Aber dagegen gibt es in den Medien keine kritischen Kommentare, man streut sich lieber Asche für Dinge auf´s Haupt, die andere vor ein paar hundert Jahren getan haben.

    Was heute geschieht, verschweigen die „Qualitätsmedien“ lieber, weil sich die Demonstranten dann von den Denkmälern ab- und den heutigen Politikern zuwenden würden. Und das ist nicht gewollt. Dass sich nun alle für etwas entschuldigen, was vor 300 Jahren passiert ist und womit kein Mensch von heute etwas zu tun hat, das wird gefordert. Aber wenn es um konkrete Maßnahmen gegen Rassismus geht, dann stimmen die Staaten der EU und des Wertewestens sogar dagegen!

    Das glauben Sie nicht? Dann zeige ich es Ihnen.

    Letztes Jahr hat Russland bei der OSZE eine Resolution mit dem Titel „Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, aggressivem Nationalismus und damit zusammenhängender Intoleranz“ eingebracht. In 18 Punkten hat Russland dort gefordert, dass sich die OSZE gegen Rassismus, Faschismus, Nationalismus, jede Form von Intoleranz und Diskriminierung und so weiter und so fort ausspricht. Englischkenntnisse vorausgesetzt, können Sie die 18 Punkte hier nachlesen.

    Und was glauben Sie, wie die EU in der OSZE abgestimmt hat? 25 Mitglieder haben gegen das Dokument gestimmt, 11 haben seine Annahme unterstützt und 13 haben sich der Stimme enthalten. Und selbsternannte Vorkämpfer für Menschenrechte und gegen Rassismus, wie zum Beispiel Großbritannien, haben gegen den Resolutionsentwurf gewettert. Alle Details können Sie hier nachlesen, ich habe letztes Jahr darüber berichtet. Die Veranstaltung der OSZE letztes Jahr war eine einzige Peinlichkeit, wie die anderen Abstimmungen der Vollversammlung der OSZE damals gezeigt haben.

    Nun hat die EU ihrerseits einen Bericht zur Lage der Menschenrechte und der Demokratie in der Welt herausgebracht. Das war der Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharova, eine offizielle Erklärung zu dem Thema wert, die ich übersetzt habe.
    (hier weiterlesen)

     

  • Gerd Ewen Ungar: Meinungshoheit – Corona und die deutschen Medien
    Wie sich das Verhalten der Medien und ihr Verständnis über ihre Funktion in einer lebendigen Demokratie veränderte. Ungar blickt auf die letzten 20 Jahre zurück. Im Folgenden einige Auszüge aus dem Artikel:

    Der Höhepunkt der Corona-Pandemie scheint in Deutschland überschritten, die Fallzahlen sind rückläufig, die Maßnahmen werden zurückgenommen. Deutschland hat es unter medizinischen Gesichtspunkten relativ gut überstanden. ...

    Gravierender Schaden entstand in Deutschland an anderer Stelle. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie dysfunktional die deutsche Gesellschaft ist. Da ist auf der einen Seite der politisch-mediale Komplex, das Zusammenspiel von Medien und Politik, mit dem Ziel, Gesellschaft zu lenken und zu steuern. In diesem Zusammenhang werden journalistische Grundsätze aufgegeben und durch eine Art "Scripted Journalism" ersetzt.
    (…)
    Auf der anderen Seite steht eine größer werdende Zahl an Bürgern, die dieses Zusammenspiel durchschauen und ihm zunehmend misstrauisch gegenüberstehen. Hier findet sich die strukturelle Erklärung für die sogenannten Hygiene-Demos und manch irrationale Erklärungsversuche zur Pandemie. Zwischen Niedergang des deutschen Journalismus und den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen besteht ein Zusammenhang. Man kann diesen Zusammenhang allerdings nur verstehen, wenn man das Wirken der Medien in ihrer Breite historisch einordnet. Das Misstrauen ist nicht einfach so vom Himmel gefallen, sondern hat eine Geschichte.

    Als die rot-grüne Regierung 2003 den Umbau der Republik unter dem Titel "Agenda 2010" ausrief, mit der der Sozialstaat deutlich zurückgebaut und der Druck auf die Arbeitnehmer deutlich erhöht wurde, bildete sich eine breite mediale Front, die diese Maßnahmen als alternativlos und notwendig verkaufte. Wir hatten über unsere Verhältnisse gelebt, war das Credo einer breiten Allianz der Medien, die von Bild über Zeit, Spiegel, FAZ bis hin zu den Lokalblättern reichte. Es gab faktisch keinen Diskurs über die Notwendigkeit einer makroökonomischen Neuausrichtung der Republik hin zur Preisgabe der staatlichen Schutzfunktion und Rückbau des Sozialstaats.

    Spätestens hier wurde ein Wandel im deutschen Journalismus deutlich sichtbar, der sich nicht mehr als kritische Kraft und Korrektiv, sondern als Multiplikator für Regierungsentscheidungen verstand. Lobbyisten wurden fortan als vermeintlich objektive Experten konsultiert, es wurden Begriffe erfunden, die beispielsweise Lohnkürzungen verschleierten und unter Euphemismen wie "Senkung der Lohnnebenkosten" als reformerischen Befreiungsschlag von "Verkrustungen" verkauften. ...

    Der deutsche Mainstream bringt das Kunststück fertig, in seiner Breite bis heute nicht zu hinterfragen, unter welchen Umständen es ökonomisch sinnvoll sein könnte, die Binnennachfrage einer Volkswirtschaft massiv zurückzufahren, und lobt die Agenda 2010 bis heute als notwendig und mutig. Dabei ist wirtschaftlich das Schleifen der Binnennachfrage durch breite Lohnsenkungen schwer begründbar, es sei denn, man hat vor, seine in einer Währungsunion verbundenen Handelspartner zu Tode zu konkurrieren. Und genau das passiert, nur aussprechen will es in Deutschland niemand.

    Die Agenda 2010 war der Sündenfall des deutschen Mainstreams. Hier gab der Mainstream seine Aufgabe als vierte Gewalt komplett auf und wurde zur PR-Abteilung der Bundesregierung und der neoliberalen Thinktanks. Wohlgemerkt nicht einzelne Blätter, sondern der deutsche Journalismus in seiner Breite. Und schon damals war der Ton gegenüber denjenigen, die die Richtigkeit anzweifelten, von ausgesprochener Aggressivität. Das Wort "Besitzstandswahrer" ist in diesem Kontext zu nennen. Es wurde all jenen durch die versammelte Qualitätspresse an den Kopf geworfen, die nicht "reformwillig" waren.
    (...)
    Das Meinungsspektrum zur Agenda 2010 wurde von einer breiten Koalition des Mainstreams sehr eng gehalten und die Medienkonsumenten über die Auswirkungen der Agenda-Politik systematisch fehlinformiert. Medien und Politik hatten sich gegen die Interessen der Bürger zusammengetan. Es war ein politisch-medialer Komplex entstanden, der fortan aktiv Meinungen beeinflussen und steuern sollte und die Aufgabe von Medien und Journalismus auch genau darin sah.

    Allerdings merkten es die Bürger dann am eigenen Leib, am Geldbeutel und Lebensgefühl: Da stimmt etwas nicht. Es ist kein Wunder, dass das Sinken der Auflagen der großen Zeitungen hier einsetzt, denn was viele Deutsche mit der Agenda 2010 gelernt haben, ist, dass Medien und Politik gemeinsam gegen Mehrheitsinteressen zugunsten von Einzelinteressen vorgehen.
    (…)
    Fake News wurden dann im Rahmen der Finanzkrise verbreitet, in der unter anderem so getan wurde, als würde in anderen Ländern weniger gearbeitet und als seien die Deutschen einfach fleißiger. Dass mit der voraufgegangenen Agenda 2010 die Löhne in Deutschland auf breiter Front gesenkt wurden, es eine innere Abwertung gab, die jetzt die Währungspartner unter Druck setzte, haben die deutschen Qualitätsmedien nie ausreichend zum Thema gemacht.

    Welche Sprengkraft von dieser Abwertung innerhalb einer Währungsunion ausgeht, hat sich den Schreiberlingen in den Wirtschaftsteilen vermutlich auch nie wirklich erschlossen. Entsprechend konsequent muss es ihnen daher nun erscheinen, für das Auseinanderfallen der EU und der Währungsunion nicht die deutsche Wirtschaftspolitik, sondern russische Desinformationskampagnen auszumachen. Warum die ökonomisch plausible Erklärung nehmen, wenn man mit dem Finger auf andere weisen und vom eigenen Verschulden ablenken kann?
    (...)
    Man könnte die Liste der Fake News des Mainstreams nahezu beliebig fortsetzen. Russische Einmischung in die US-Wahlen, ... Berichterstattung über Unruhen in Hongkong und Schweigen zu Protesten in Frankreich – der deutsche Journalismus ist in seiner Breite in einer schweren Krise, hat sich von seiner Aufgabe, neutral zu informieren, und damit von den Erwartungen an ihn entfernt.

    Er pflegt doppelte Standards, wurde in zentralen Bereichen zur PR-Abteilung der Regierung und einseitig ausgerichteten Lobbygruppen, wie am Beispiel der Agenda 2010 hier gezeigt wurde. … Wer gegen die Interessen seiner Leser schreibt, muss sich nicht wundern, wenn die Auflage sinkt und Vertrauen in grundlegender Weise verloren geht.

    Durch derartige Lobbyarbeit zugunsten von Einzelinteressen wächst das Misstrauen. Entsprechend schwierig gerät die Kommunikation in der aktuellen Corona-Krise – hier wird das Ergebnis des journalistischen Versagens der Vergangenheit eingefahren.

    Zu Beginn der Corona-Epidemie in Deutschland passierten regierungsseitig unglaublich viele Fehler. Es wurde beispielsweise versäumt, rechtzeitig Schutzkleidung und Masken zu bestellen. Entsprechend schwierig war es, plausibel zu erklären, warum aus einer angeblich mangelnden Schutzwirkung von Masken einige Wochen später plötzlich eine Maskenpflicht werden sollte, just zu dem Zeitpunkt, als wieder ausreichend Material zur Verfügung stand. Die Kommunikation war seitens der Bundesregierung und des Robert Koch-Instituts in vielen Punkten unehrlich und verunsichernd.

    Diese Unehrlichkeit wurde vom deutschen Journalismus gedeckelt. Im Gegenteil wurde alles, was sich an kritischen Fragen aufdrängte, als Verschwörungstheorie abgetan und Fragesteller wurden diskriminiert und in die rechte Ecke gestellt. Dabei ist unmittelbar einsichtig, dass bei einem neu auftretenden Virus, das kaum erforscht ist, es mehr Fragen als Antworten geben muss. Eine Vielfalt von Meinungen und Standpunkten ist eigentlich der natürliche Zustand in einer solchen Situation.

    Was jedoch passierte, war, dass diese Vielfalt und diese unterschiedlichen Meinungen überhaupt nicht zugelassen wurden. Auch in diesem Zusammenhang tat sich der Spiegel wieder besonders hervor, der nicht davor zurückschreckte, einen Journalistenkollegen wegen seiner anderen Haltung zu "enttarnen" und an den Pranger zu stellen. Aber auch die GEZ-Medien hielten sich nicht zurück. In den Tagesthemen gab es Raum für einen Kommentar, in dem all jene als "Spinner und Wirrköpfe" verunglimpft werden, die den Maßnahmen kritisch gegenüberstehen.

    So vollendete die Corona-Pandemie in Deutschland das, was seit der Agenda 2010 gut vorbereitet war. Der Riss zwischen Medien und Politik einerseits und Bürgern andererseits wurde nochmals größer und tiefer. Da hilft es auch nichts, dass sich die Medienanstalten mit dem Deutschen Fernsehpreis in diesem Jahr für ihre Corona-Berichterstattung selbst auszeichnen. Das ist für aufmerksame Beobachter des Mediengeschehens in Deutschland ein recht absurd anmutender Vorgang.
    (…)
    Zudem wäre im Zusammenhang mit Corona zuzugeben, dass die rasante Entwicklung der Forschung im Hinblick auf Corona die Redaktionen schlicht überfordert. Es besteht überhaupt nicht das Potenzial, derart komplexe Vorgänge einordnen zu können.

    Doch trotzdem: Gerade der Mainstream fühlt sich berufen, eine Wächterfunktion über Meinungen erbringen zu können, und bedroht damit in grundlegender Weise verfassungsrechtlich verbürgte Freiheiten, die er eigentlich verteidigen sollte. Eine extrem bedrohliche Entwicklung, der wir schutzlos ausgeliefert sind. Denn genau das, was uns davor schützen sollte, nämlich kritischer Journalismus, fällt seit der Agenda 2010 in zunehmendem Maße aus und ist selbst maßgeblicher Teil dieser Bedrohung. 

     

  • Nikolaus Ramseyer: Corona beschleunigt die unausweichliche Deglobalisierung
    Wache Leute hatten die Globalisierung schon lange als gefährliche Sackgasse erkannt. Die Corona-Krise zeigt, wie recht sie haben.
    (...)
    40'000 Flugzeuge in der Luft – 10'000 Containerschiffe auf den Meeren
    Nur immer weiter so? Konkret würde das heissen, dass bis 2040 an die 40'000 Flugzeuge rund um den Globus fliegen würden, dass Millionen von Sattelschleppern immer mehr Waren über alle Kontinente hin und her führen und dass bald mehr als 10'000 riesige Containerschiffe über Tausende von Meilen die Weltmeere durchpflügen würden.

    Diese Schiffe sind inzwischen bis 60 Meter breit und fast 400 Meter lang. Sie können 25'000 Container-Einheiten (TEU) laden und erreichen eine Tragfähigkeit (tdw) von 200'000 Tonnen. Angetrieben werden sie durch extrem langsam laufende (unter 100 Touren/Min) Zweitakt-Dieselmotoren der Marke Wärtsilä-Sulzer von der Grösse eines Wohnblocks. Sie liefern 80'000 kW (107'000 PS) Leistung. Für 2 Meter Fahrt des Schiffes verbrauchen diese Riesen-Triebwerke 1 Liter fossilen Treibstoff.

    «Viel zu viel herumgefahren und herumgekarrt»
    Die schwimmenden Kolosse sind das Sinnbild der enthemmten, globalen Verkehrs- und Transport-Wirtschaft. Sie wächst seit Jahrzehnten viel schneller als die produzierende Realwirtschaft: Wie genau, das zeigt die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gestützt auf WTO-Zahlen: Die weltweite Warenproduktion hat zwischen 1960 um den Faktor 7,3 (+ 625 Prozent) zugenommen. Gleichzeitig vervielfachte sich der transnationale Handel (Warenexport) jedoch von 1 (1960) auf den Wert 19,7 (+1874 Prozent).

    Das bedeutet: Statt (lokal) produziert und konsumiert, werden die Waren immer mehr (weltweit) herumtransportiert. Auf Kosten der zusehends geschädigten Umwelt – die sich aber kaum je in den Transportpreisen niederschlagen. Und mit absurden Auswüchsen: So wird gerade Buchenholz aus Wäldern im Berner Mittelland in Containern nach China exportiert. Und der Transport dieser Container bis Basel kostet mehr, als von dort bis nach Schanghai.

    Der Berner SVP-Bundesrat Adolf Ogi hatte als Schweizer Verkehrsminister vor Jahrzenten schon vor derlei Irrsinn kurz und knapp gewarnt: «Äs wirt iifach vil z viel desume gfahre u desume gcharet!» (Es wird einfach viel zu viel herum gefahren und herum gekarrt.) Seither haben gescheite Leute immer wieder und immer eindringlicher ähnliche Warnungen formuliert. Umsonst: Es ging unter dem Schutz der Welthandelsorganisation (WTO) nur immer weiter so – und immer schneller.

    Globalisierung ist ein Koloss auf tönernen Füssen
    Bis nun Anfang Jahr ein kleines Virus eine eher grosse Eisenstange ins Getriebe dieses wahnwitzigen Welthandels rammte – und das Ganze jählings zum Stillstand kam. Da zeigten sich sofort mehrere Fakten:

    1. Die kommerzielle Globalisierung hat im Stresstest versagt: Handelsketten rissen sofort und legten in der produktiven Wirtschaft ganze Konzerne lahm (VW mit 600'000 Beschäftigten in Deutschland etwa). Regional ausgerichtete Firmen mit hoher «Fertigungstiefe» (Produktion im Haus statt modisch «outgesourced» vom billigsten Anbieter) hingegen hatten kaum Probleme. So etwa der Erntemaschinen-Fabrikant Grimme in Damme (Oldenburg, D): Die 2700 Angestellten der ehemaligen Dorfschmiede mussten nie in Kurzarbeit gehen, weil Grimme 85 Prozent der Teile seiner Kartoffel-Vollernter im Haus produziert.
    (...)
    4. Kurzum: Alle freisinnigen und sonstwie rechten Ideologen, die zuvor während Jahrzehnten das garstige Lied von der Privatisierung sangen (weil der Staat ja nichts und die Privaten alles besser könnten), mussten nun offenen Mundes zusehen, wie die Privaten gegen das Virus fast nichts können (ausser eventuell schnöde mit Wucher-Preisen für Masken und Desinfektionsmittel oder mit schlauer Finanz-Spekulation auch vom weltweiten Unglück noch zu profitieren) – während «der Staat» fast alles musste. «Staatliche Beihilfen», wie sie die EU der Schweiz erst gerade noch mit ihrem ohnehin unnötigen und nun wohl definitiv toten «Rahmenabkommen» weitgehend verbieten wollte, gab es nun plötzlich (Ausnahmeklauseln entsprechend) für alles und jeden. Peinlich dabei: Selbst einige jener oberschlauen Privatunternehmer, die zuvor vermittels «Optimierung» jahrelang möglichst keine Steuern zahlen (und also unsere solide Schweizer Infrastruktur möglichst gratis nutzen) wollten, standen «in Bern oben» nun plötzlich an, um sich von diesen «verhassten» Steuern auch noch ein wenig staatliche Beihilfe in der Not zu ergattern.
    (...)

     

  • Opablog: Demokraten sollen Demokratie täglich leben
    (...)
    Eigentlich eine Binsenweisheit, eine Tautologie sogar. Aber manche stürzen sich in den ideologischen Streit, und gleich ist die Demokratie vergessen. Es ist der Augenblick, wo sie auszuhalten wäre, aber – pft! – ist sie weg. Schneller als der Wind.

    Immer wieder und immer noch passiert das auch Linken, vielleicht sogar besonders oft den Linken. Linke haben den Anderen nämlich die Einsicht voraus, was zu tun ist, damit das Leben besser wird. Zumindest glauben sie das. Sie kennen den Weg durchs Gebirge, die Mühen der Ebene, sie wissen, auf wen als Gefährte Verlass ist.

    Leider ist die Zahl der Genossen klein und kleiner. Deshalb gehen Linke in die Versammlungen der Demokratie, um weitere Menschen überzuzeugen für den ordentlichen Kampf.

    Demokratie aber – man muss es zugeben – ist ein wirres Geschäft. Das hängt wohl mit dem „Demos“ zusammen. „Volk – gibt es das überhaupt?“, fragen manche Linke.

    Erträglich ist es noch, wenn der Linke redet und die Menschen zuhören und regelmäßig klatschen („langanhaltender stürmischer Beifall, die Delegierten erheben sich von ihren Plätzen“). Doch diese Gelegenheiten sind seltener geworden. Jetzt wollen alle reden. „Offenes Mikrofon“ – die reden wollen, melden sich, kommen auf die Liste und kommen dran in der Reihenfolge des Meldens; gleiche Redezeit.

    Da reden die mit viel Ahnung und die mit wenig Ahnung. Es reden die Bescheidenen und die Eitlen, Homos und Heteros, und wenn jemand das 55. Geschlecht vertritt, dann redet auch das 55. Geschlecht.

    So weit, so ausufernd. Wer es eilig hat mit den politischen Siegen, der stöhnt über die Redundanz. Doch unerträglich wird es, wenn die Gegner zu Wort kommen, die „Wölfe im Schafspelz“, die der „konsequente Linke“ längst ausgemacht hat, die aber partout niemand zum Schweigen bringt. (...) Hier weiterlesen

     

  • Philip Giraldi: Handeln außerhalb der Rechtsstaatlichkeit: Washington setzt den Internationalen Strafgerichtshof unter Druck

    Offenbar gibt es keine Grenze für das, was die Vereinigten Staaten von Amerika und Israel ohne Konsequenzen durchsetzen können. Die Vereinigten Staaten führen einen verheerenden Wirtschaftskrieg gegen den Iran und Venezuela, während sie gleichzeitig China für eine globale Gesundheitskrise verantwortlich machen, zu deren Bewältigung sie aufgrund ihres Austritts aus der Weltgesundheitsorganisation nicht bereit sind. Israel plant unterdessen die illegale Annexion bedeutender Teile des palästinensischen Westjordanlandes im Juli, mit grünem Licht der Trump-Administration, und niemand in Europa oder anderswo ist auch nur daran interessiert, ernsthafte Sanktionen zu initiieren, die zu einem Aussetzen dieser Entscheidung führen könnten. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat sogar rundheraus erklärt, dass die verbleibenden Palästinenser, die annektiert werden sollen, keine israelischen Staatsbürger werden - sie werden stattdessen "Untertanen" des jüdischen Staates sein, ohne garantierte Rechte oder Privilegien.

    Das amerikanische Establishment ist voll und ganz dem Prinzip verpflichtet, dass die Vereinigten Staaten von Amerika und Israel im Umgang mit anderen Ländern in ihren jeweiligen Einflussbereichen "freie Hand" haben sollten. Das bedeutet effektiv, die Erzählung so zu kontrollieren, dass die USA und der jüdische Staat immer als Opfer des prinzipienlosen Verhaltens anderer Nationen erscheinen, und auch ein Umfeld zu schaffen, in dem es keine wirksamen rechtlichen Anfechtungen aggressiven Handelns geben kann.

    Die einzige Organisation, die speziell gegründet wurde, um sich mit Fragen wie aggressiven Kriegen und ethnischen Säuberungen zu befassen, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, wurde in der Tat sowohl von Washington als auch von Jerusalem ins Visier genommen, um ihm in Situationen, in denen eines der beiden Länder involviert ist, jegliche Gerichtsbarkeit zu verweigern. Weder Israel noch die Vereinigten Staaten von Amerika haben den IStGH anerkannt, aus dem offensichtlichen Grund, dass sie selbst die Hauptursache für ungeheuerliche Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen sind. Israel ist besonders besorgt wegen seiner zahlreichen Kriegsverbrechen, darunter der Verletzung der Vierten Genfer Konvention, die "die direkte oder indirekte Überführung von Teilen seiner eigenen Zivilbevölkerung in das von ihm besetzte Gebiet durch die Besatzungsmacht oder die Deportation oder Überführung der gesamten oder von Teilen der Bevölkerung des besetzten Gebietes innerhalb oder außerhalb dieses Gebietes" verbietet.

    (...)

     

  • Analitik: Russland entwischt in die technologische Zukunft

    In den letzten Wochen mehren sich Zuschriften und Kommentare, in denen Leser verzweifelt oder erbost darüber sind, dass Russland in der Grippekrise eine ganze Reihe von digitalen Technologien ausprobiert und einführt, die als Überwachungstechnologien fungieren können.

    Die Erbostheit wird garniert mit: “Russland/Putin hat mich enttäuscht, es stellt sich raus, dass Putin auch nur ein Gates ist”.

    Erstens: Mittel und Zweck sind nicht das Gleiche. Jeder Mensch hat tödliche Waffen in seiner Küche stehen, weil sich diese tödlichen Waffen als verdammt nützliche Helfer beim Zubereiten von Nahrung erwiesen haben. Hin und wieder werden diese Werkzeuge tatsächlich als Waffen verwendet, mit Todesfolge. Trotzdem kommt niemand auf die Idee, diese Waffen aus den Küchen der Welt zu verbannen. Es kommt auch niemand auf die Idee, diese Werkzeuge als per se böse einzustufen, weil diese offensichtlich zum Töten verwendet werden. So verdammt kompliziert ist die Welt.

    Zweitens: Die Frage ist nicht, ob digitale Technologien kommen werden. Sie sind schon da, Big Data ist längst da. Die Technologien werden sich weiter ausbreiten und Big Data wird exponenziell wachsen. Man kann das mögen oder nicht, aber Fragen des Mögens sind nicht Gegenstand dieses Blogs. Ich persönlich mag die Durchdringung des Lebens mit diesen Technologien übrigens auch nicht. Was spielt das für eine Rolle bei Analysen der Sachlage?

    Drittens: Die Frage ist, wer Kontrolle über die digitalen Technologien und die damit gesammelten Daten hat. Aus russischer Sicht verheißt es sicher nichts Gutes, wenn die Technologien und die Daten nicht unter russischer Kontrolle sind. Aus chinesischer Sicht verheißt es nichts Gutes, wenn sie nicht unter chinesischer Kontrolle sind. Aus deutscher Sicht verheißt es nichts Gutes, wenn sie nicht unter deutscher Kontrolle sind. An der Stelle der europäischen Kommentatoren, die sich über Russland aufregen, würde ich mir lieber Sorgen um das eigene Heimatland machen. Russland hat Glück, denn Russland wird eigene Technologien haben und die Daten seiner Bürger selbst besitzen. Und was ist mit Missbrauch? Kann und wird es geben, wie überall auch, angefangen mit der Küche und den Messern. Haben die Russen mehr oder weniger Missbrauch zu befürchten, wenn die Technologie nicht in der Hand ihrer Regierung, sondern in der Hand offen feindlicher Regierungen ist?

    Viertens: Was ist mit dem Nutzen? Von wem haben die Russen mehr Nutzen vom Einsatz der Technologien zu erhoffen – von ihrer eigenen Regierung oder von der Regierung der USA? Wird Bill Gates dafür sorgen, dass die russischen Behörden aus den Big Data ablesen können, wo Probleme liegen und wie effektiv vergangene Lösungsversuche waren? Wird Bill Gates dafür sorgen, dass russische Behörden intrabehördlichen Datenaustausch betreiben, so dass Menschen für ihre amtlichen Anträge nur einen digitalen Antrag von Zuhause aus ausfüllen müssen und der Rest automatisch geschieht? Gerade jetzt wird das Realität in Russland. Bill Gates hat nichts dazu beigetragen und wird nie dazu beitragen, solchen Nutzen müssen die Russen schon selbst für sich generieren, was sie auch tun. Wird Bill Gates denn wenigstens die Gewinne vom Einsatz seiner Technologien zum Nutzen der Russen ausgeben? Warum zum Teufel sollte er das? Dabei ist der Nutzen riesig. Nur eine kleine Handvoll von Ländern wird im Besitz digitaler Spitzentechnologien sein. Bei dieser Handvoll Ländern wird die übrige Welt einkaufen müssen. Und diese digitalen Technologien haben auch noch gigantische Gewinnmargen. Dazu kommt der politische Einfluss auf die Länder, denen man seine digitalen Lösungen verkauft. Dazu kommen die gigantischen positiven Effekte auf die Wirtschaftskraft und die Produktivität, die der Einsatz digitaler Technologien mit sich bringt.

    Warum sollte sich Russland all das entgehen lassen? Machen Sie sich keine Sorgen um Russland. Russland wird das Unausweichliche zu eigenen Gunsten zu nutzen wissen. Nur wenige Länder werden dieses Glück haben. Die übrigen Länder werden die gleichen Technologien bekommen – in abgespeckten Versionen, zu horrenden Preisen, mit beschränktem Nutzen für sich selbst und mit weit größerem Missbrauchspotential, als wenn diese Technologien in eigenem Besitz wären.

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  • Ulrich Teusch: Kreuz- und Querfronten – Politische Orientierung „nach Corona“

    I.
    (...) Machteliten lassen eine Krise selten ungenutzt verstreichen. Die Krise gilt ihnen als Chance, als Steilvorlage: zum Abbau von Liberalität und Demokratie, zur Verstärkung von Bevölkerungskontrolle und Repression – zur Festigung und Steigerung ihrer Macht.

    Wie ich in einem früheren Artikel auf dieser Seite erläutert habe, erfreuen sich zwei Herrschaftstechniken besonderer Beliebtheit und werden oft in Kombination eingesetzt: Zum einen wird versucht, einen möglichst breiten Konsens in der Bevölkerung herzustellen, nicht zuletzt – wie gegenwärtig – durch die Erzeugung oder Instrumentalisierung von Angst und Schrecken, wobei gefügige, staatsnahe Medien verlässliche Unterstützung leisten.

    Zum anderen werden dort, wo die Konsensbeschaffung ins Leere läuft, also auf Widerspruch oder Widerstand stößt, andere Saiten aufgezogen. Oppositionelle Strömungen – in einer Demokratie doch eigentlich eine pure Selbstverständlichkeit – werden offensiv und aggressiv ausgegrenzt: als Leugner, Unbelehrbare, Nörgler, Querulanten. Sie werden stigmatisiert und diffamiert.  (...)


    II.
    (...)
    Und, nicht zu vergessen, sind da noch die Verschwörungstheoretiker. Sie scheinen sich neuerdings zu vermehren wie die Karnickel. Man findet sie hinter jedem Busch. Doch in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle sind nicht die Verschwörungstheoretiker das Problem, sondern diejenigen, die sie so nennen. (...)

    Die Jagd auf angebliche Verschwörungstheoretiker ist zum Lieblingssport unserer selbsternannten politischen und medialen „Elite“ geworden. Mit der Folge, dass der Begriff in den vergangenen Wochen derart häufig eingesetzt wurde, gegen beinahe alle und jeden, dass er inzwischen jeder Sinnhaftigkeit beraubt ist. Er ist verbrannt. Wer jetzt immer noch glaubt, mit diesem Vorwurf anrücken zu können, macht sich lächerlich und dokumentiert nichts weiter als seine intellektuelle Verwahrlosung und seinen akuten Argumentationsnotstand.

    III.
    Demokratie hat nichts mit Vertrauen zu tun, sondern mit Kontrolle. Selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger vertrauen ihren jeweiligen Führungskräften nicht einfach so, sondern sie schauen und schlagen ihnen auf die Finger. Skepsis gegenüber der Staatsmacht, auch gegenüber anderen Machtformen (etwa ökonomischen), ist das Lebenselixier der Demokratie. Wachsamkeit und insbesondere das frühzeitige Wittern von möglichem Machtmissbrauch zählen zu den Kardinaltugenden demokratischer Bürger. Die Jasager, also die politischen Schlafmützen, obrigkeitsverliebten Leitartikler und sonstigen opportunistischen Hofschranzen werden das nie begreifen; sie werden sich weiter über „die Spinner“ echauffieren und sie zur „Gefahr“ erklären (Gefahr für wen? für was?). (...)

    IV.
    Wir haben in den vergangenen Wochen gesehen, dass man Menschen von einem Tag auf den anderen zwingen kann, bei bestimmten Gelegenheiten eine Maske aufzusetzen. Wir haben gesehen, dass man sie denunzieren und bestrafen kann, wenn sie es nicht tun. War und ist diese Verfahrensweise alternativlos? Selbstverständlich nicht. Man hätte die Menschen im Rahmen einer Werbe- und Aufklärungskampagne oder in persönlicher Ansprache ohne weiteres auch freundlich bitten können, bei bestimmten Gelegenheiten eine Maske zu tragen. Man hätte diesen Wunsch in aller Ruhe und mit guten Argumenten unterfüttert vortragen können. Man hätte für die Maske werben, man hätte Menschen überreden oder überzeugen können.
    (...)
    Bei der von Tag zu Tag absurder werdenden Maskenpflicht geht es nicht um Sicherheit und nicht um Gesundheit, sondern um soziale Kontrolle. Wer die Maske anlegt, vollzieht immer auch einen Kotau. Die Obrigkeit sieht es mit Wohlgefallen. Wir machen Männchen, und wir holen Stöckchen. Braver Hund.

    Betrachten wir noch kurz das Gebaren unserer Polizei: Musste sie in der „Corona-Krise“ und zwecks Durchsetzung der „Maßnahmen“ wirklich so massiv, so bedrohlich, so einschüchternd, so martialisch auftreten? Musste sie Menschen maßregeln, festnehmen, schikanieren? Natürlich musste sie das nicht. Die Polizei kann auch anders. Bei vielen Gelegenheiten versteht sie es sehr wohl, sich als Freund und Helfer beliebt zu machen.

    Kurzum: Obwohl man mit der Krise auch ganz anders hätte umgehen können, ist man mit ihr genau so und nicht anders umgegangen: nämlich autoritär und repressiv. Das war kein „Fehler“, kein „Versehen“ – es war Absicht. Und es erlaubt Rückschlüsse auf die Motivlage der politisch Verantwortlichen. Wenn Merkel in diesen Tagen mit scheinbarem Bedauern eingeräumt hat, dass man der Bevölkerung in der Krise einiges zugemutet habe, dann ist diese Aussage vor dem soeben skizzierten Hintergrund heuchlerisch, zynisch und selbstgerecht.
    (...)
    VI.
    Welche Konsequenzen ziehe ich aus der „Corona-Krise“? (...) 
    Ende März hatte ich in einem Artikel festgestellt, „dass Menschen, mit denen man über viele Jahre kollegial und freundschaftlich zusammengearbeitet hat, mit denen man auch weiterhin in tausend Fragen übereinstimmt, nun wegen eines abweichenden Urteils über ‚Corona‘ unvermittelt den Stab brechen – und zwar einseitig, unwiderruflich, ohne weitere Diskussion“. Doch das war erst der Anfang. Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass diejenigen, die „Corona“ für eine eminente Gefahr hielten, auch dazu neigten, den dann folgenden autoritären und repressiven staatlichen Zugriff zu unterstützen.

    Ob man die Suspendierung von Grundrechten abnickte oder gegen sie protestierte – es handelte sich nicht um eine „Links-Rechts-Frage“. Viele Linke agierten staatstragend, geradezu beflissen (man denke an Katja Kipping), und wenn man als Maßnahmen-kritischer Linker nach Verbündeten suchte, fand man sie häufig dort, wo man sie vielleicht nicht unbedingt vermutet hätte.

    Dass US-amerikanische Libertäre, wie Ron Paul, David Stockman und viele andere, gegen ihren Maßnahmenstaat zu Felde zogen, war nicht überraschend. Aber dass man sich in Deutschland sein Herz an Einlassungen von Roland Tichy oder der „Achse des Guten“, von Julian Reichelt, Mathias Döpfner oder Wolfgang Herles, von Schäuble oder Kubicki wärmen konnte, war eine durchaus neue Erfahrung. Eine interessante Querfront gab sich da zu erkennen, die man – angesichts der Tatsache, dass sich auch hohe katholische Würdenträger der Bewegung anschlossen – vielleicht als „Kreuz- und Querfront“ bezeichnen könnte.

    Diese erstaunlichen Erfahrungen müssen alle Beteiligten jetzt erst einmal verarbeiten. Vielleicht bahnt sich hier ja eine Entwicklung an, die in der Zeit „nach Corona“ noch an Bedeutung gewinnen wird: keine festgefügten Lager mehr, keine ideologischen Borniertheiten, keine Berührungsängste (also kein „political distancing“), sondern flexible, überraschende, schwer berechenbare und immer themenbezogene Bündnisse ganz unterschiedlicher Kräfte. Man müsste sich da auch gar nicht groß absprechen – getreu dem Motto: getrennt marschieren, vereint schlagen. Solche Kreuz- und Querfronten könnten eine befreiende Wirkung entfalten, also die etablierte Politik auf Trab bringen – und eine demokratische politische Kultur revitalisieren.

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