Lesefrüchte

Juli 2023

 

Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind und zitieren Auszüge. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.

 


Lesefrüchte im vergangenen Monat
Chandran Nair: Multipolare Welt: Der Westen muss sich ... Abrechnung vorbereiten
Oleg Nesterenko:
„Meinungsfreiheit im Westen ist nur eine ... Erzählung”

Rupert Koppold:
Auf geht’s! Tschaikowsky, Tolstoi und Co. ausmerzen!
Fassadenkratzer:
Bodeneigentum – das beschwiegene soziale Grundübel

 


Chandran Nair: Multipolare Welt: Der Westen muss sich auf eine längst überfällige Abrechnung vorbereiten

Hier eine stark gekürzte Fassung des Artikels:

Die post-westliche, multipolare internationale Ordnung ist im Entstehen. Während sich die Welt mit den Auswirkungen dieser Machtverschiebung auseinandersetzt, nehmen die Grundlagen für eine große Abrechnung Gestalt an.

Diese Abrechnung wird die lang gehegten Überzeugungen und Strukturen infrage stellen, die die westliche Vorherrschaft in der Welt in den letzten paar hundert Jahren aufrechterhalten haben, und dabei das Wesen des vermeintlichen Anspruchs des Westens auf die Führung der globalen Hackordnung offenlegen. Das Endergebnis wird eine grundlegende Neubewertung der internationalen Beziehungen sein, wie wir sie kennen. (...)

Fünf zu berücksichtigende Trends
Welche Zukunft den Westen erwartet – ein reibungsloser Übergang zur Multipolarität oder eine Periode der Instabilität und potenzieller Konflikte – wird weitgehend davon abhängen, wie die politischen Entscheidungsträger auf die folgenden fünf Trends reagieren.

Erstens wird die bisherige Geschichtserzählung enträtselt. Der Westen hat im Laufe seiner Kolonialgeschichte die selektive Interpretation und Erzählung von Ereignissen praktiziert und perfektioniert, indem er sich selbst als Urheber der modernen Zivilisation und als wohlwollende Führungsmacht darstellte. Dies ändert sich nun; Informationstechnologien wie das Internet und soziale Medien haben das Monopol über Informationen und Geschichte gebrochen, das einst von westlichen Gatekeeping-Institutionen (Medienunternehmen, Universitäten, Buchverlagen usw.) gehalten wurde. Infolgedessen erkennen Menschen auf der ganzen Welt, dass die Geschichte nicht mehr auf die westliche Interpretation beschränkt ist – einschließlich ihrer Projektion von Wohlwollen. (...)

Der zweite Trend ist die Neubewertung der "regelbasierten" internationalen Ordnung. Die politischen Entscheidungsträger in Washington mögen es nicht gerne hören, aber das Konzept ist weltweit Gegenstand von Spott und wird weithin als ein Instrument des Westens zur Kontrolle globaler Angelegenheiten und zur Aufrechterhaltung der Hegemonie betrachtet. Angesichts der wiederholten Verstöße gegen die eigenen Regeln wächst der Unmut gegen die westlichen Nationen, was bedeutet, dass die Legitimität dieser Ordnung trotz ihrer positiven Facetten infrage gestellt wird. (...)

Der dritte Punkt ist die Demaskierung der westlichen "Friedenssicherung". Obwohl sie sich selbst als Garant der globalen Sicherheit darstellen, sieht ein Großteil der Welt die USA und in geringerem Maße auch Europa heute eher als Profiteure des Krieges denn als an der Förderung eines echten Friedens interessiert an. Der westliche militärisch-industrielle Komplex – insbesondere der US-amerikanische – ist so mächtig, dass er bekanntlich die Außenpolitik der USA in dem Maße steuert, wie er Konflikte aufrechterhält, um so vom Krieg zu profitieren. (...)
Der Rest der Welt hat erkannt, dass man dem Westen allein nicht zutrauen kann, die globalen Friedensbemühungen anzuführen, vor allem wenn ein erheblicher Teil seiner Wirtschaft darauf ausgerichtet ist, von Konflikten zu profitieren. (...)

Der vierte Trend, der sich abzeichnet, ist die Entthronung des westlichen Finanzüberbaus. Es ist kein großes Geheimnis, dass der Westen seine finanzielle Macht für geopolitische Vorteile und Zwecke einsetzt – Politiker und Experten sprechen offen von der "Bewaffnung der Finanzen" und der Verhängung von Sanktionen gegen Länder, die sich nicht an die westlichen Vorgaben halten. Auch die Fähigkeit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, die Reserven souveräner Staaten – Afghanistan, Venezuela, Russland – einzufrieren und sogar zu beschlagnahmen, hat weltweit Schockwellen ausgelöst. (...)

Fünftens und letztens: Die Glaubwürdigkeit der westlichen Presse hat spürbar nachgelassen. Dies kommt zu einem kritischen Zeitpunkt, da wiederholte Unzulänglichkeiten in den letzten Jahren das weltweite Bewusstsein für die Rolle der westlichen Medien bei der Aufrechterhaltung der vom Westen bevorzugten Ansichten über die derzeitige Weltordnung geschärft haben – oft zum Nachteil anderer Länder. (...)

Darüber hinaus hat die unzureichende und voreingenommene Berichterstattung über nicht-westliche Konflikte wie die im Jemen, in Myanmar und in Palästina weltweit zu Vorwürfen der Vernachlässigung, Voreingenommenheit und sogar des Rassismus geführt. (...)

Die westlichen Regierungen, die in einer Echokammer der Verleugnung operieren, müssen ihren Freunden in der ganzen Welt die Hand reichen und erkennen, was für alle außer ihnen selbst offensichtlich ist: dass die Welt nicht mehr so ist wie in der Zeit nach dem Kalten Krieg. Die alten Wege sind zu Ende, und der Westen hat einfach nicht mehr die politische und finanzielle Macht, ganz zu schweigen von der internationalen Legitimität, die er einst hatte. Die westlichen Nationen müssen sich an dieses veränderte internationale Umfeld anpassen, anstatt stur auf "business as usual" zu beharren. Tun sie dies nicht, wird die Welt noch gefährlicher und die Glaubwürdigkeit und der Einfluss des Westens noch weiter schwinden.


 

Oleg Nesterenko: „Meinungsfreiheit im Westen ist nur eine vorformatierte und vorkonditionierte Erzählung” – Teil 3 von 3
(...)
Zurück zum Krieg in der Ukraine. War dieser Krieg unvermeidlich?
Russland konnte nicht umhin, in den Krieg einzutreten. Wenn es das nicht getan hätte, wäre die Ukraine mittelfristig in die NATO eingetreten. Von den Massakern gegenüber der Bevölkerung im Donbass will ich gar nicht erst reden. Wer sagt, dass die ukrainischen Ultranationalisten keinen Massenmord verübt hätten, der tausendmal größer gewesen wäre als der in Odessa 2014, wenn sie die Kontrolle über die Städte Donezk und Lugansk übernommen hätten, weiß nicht, wovon er redet.

Die totale Säuberung von allem, was russisch oder prorussisch ist, war und ist immer noch Teil von Kiews Plänen. Und wenn Sie drei Viertel der Bevölkerung in diesen Regionen haben, die das Kiewer Regime und alles, wofür es steht, zutiefst verabscheuen (ich weiß, wovon ich spreche), dann stellen Sie sich das Ausmaß der Massaker vor, die stattgefunden hätten, wenn Russland sie ihrem Schicksal überlassen hätte.

Natürlich sind nicht alle Ukrainer Ultranationalisten oder Neonazis, aber ihr Anteil in der Ukraine ist recht groß und vielfach größer als der der extremen Rechten in Frankreich. Außerdem ist es ein großer Unterschied, ob man ein marginaler Extremist oder ein Extremist ist, der die Macht in einem Land erlangt hat.

Die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation ist groß, wenn die Ukraine in die NATO aufgenommen wird. Wenn Kiew einseitig Feindseligkeiten zur Eroberung der Krim beginnen würde, beispielsweise ohne die Zustimmung von Paris – und Kiew hat durchaus die Absicht, dies zu tun –, würde Russland der Ukraine den Krieg erklären. Es würde einem NATO-Land den Krieg erklären. Und im Rahmen von Artikel 5 der NATO wäre Paris, sofern es nicht sofort aus der Organisation austritt, gezwungen, offen Krieg gegen Moskau zu führen und nicht stellvertretend, wie es das heute tut. Wenn dies geschehen würde, wäre es nahezu unmöglich, dass Russland nicht mit einem oder mehreren gezielten Schlägen mit taktischen Nuklearwaffen vorgehen würde. Dies ist eindeutig in der russischen Militärdoktrin verankert, da gibt es nichts zu interpretieren.[2] Und wenn es auf diesen taktischen Nuklearschlag auch nur die geringste Gegenreaktion seitens der NATO gibt, wird die Menschheit die Apokalypse erleben.

Ich bin sehr erstaunt, dass die sogenannten Experten, die die Fernsehstudios bevölkern und von denen viele an einer schweren Form analytischer Kurzsichtigkeit leiden, nicht in der Lage sind, zu verstehen: Indem die Russische Föderation die Ukraine daran hindert, der NATO beizutreten, ist sie dabei, die Welt zu retten. Es wird die Jünger des Atlantizismus empören, aber ich sage: Der laufende Krieg rettet die Welt.[3]

Die Frage ist nicht, ob der Atomschlag stattfinden, sondern wer das erste Ziel sein würde, um damit alle anderen, die sich auf einen russischen Bluff verlassen, „abzukühlen” – der „Bluff”, von dem jeder in Europa noch am Tag vor Russlands Kriegseintritt gesprochen hat und aus dem offenbar immer noch niemand auf Seiten der NATO etwas gelernt hat.

„Der geplante Blitzkrieg gegen Moskau ist zu einem Abnutzungskrieg geworden.”
Was den Westen betrifft, so gibt es keine Hinweise darauf, weder wirtschaftliche noch militärische, dass die Beteiligung an diesem Krieg auf Dauer angelegt war. Ursprünglich war geplant, Russland in die Position des Aggressors zu bringen und dann Sanktionen zu verhängen. Damals waren fast alle atlantischen Analysten der Ansicht, dass diese Sanktionen ausreichen würden, um die russische Wirtschaft zusammenbrechen zu lassen und Russland die Fähigkeit zur Fortsetzung der Konfrontation zu nehmen.

Die Idee war also, Russland untragbare wirtschaftliche Bedingungen aufzuzwingen, seine Bevölkerung gegen die Machthaber aufzuwiegeln und so Russland zum Zusammenbruch zu bringen. Was ist das Ergebnis? Die Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union, deren Industrie auch gegenüber den USA durchaus wettbewerbsfähig war – größtenteils aufgrund der billigen und durch langfristige Verträge gesicherten Energielieferungen Russlands –, wurden zerstört; und zwar auf sehr lange Sicht zerstört. Dies ist ein sehr großer Sieg für die USA.

Die Idee war auch, Russland in die Knie zu zwingen, damit es in einem künftigen Krieg, der unweigerlich zwischen den USA und China stattfinden wird, China nicht unterstützen kann, insbesondere was Energie und Nahrungsmittel angeht.

Das hat nicht funktioniert. Russland hat sich wirtschaftlich gesehen als viel widerstandsfähiger erwiesen, was mich persönlich nicht überrascht, da ich das Währungssystem, die regulierenden Maßnahmen der russischen Zentralbank und die Reserven, über die Russland verfügt, ein wenig kenne.

Aus dem geplanten „Blitzkrieg” gegen Moskau ist ein Zermürbungskrieg geworden. Moskau hat die USA und den kollektiven Westen gezwungen, etwas zu tun, das nicht geplant war. All die Probleme, die wir heute in den USA und der EU im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine sehen (Waffenlieferungen, wirtschaftliche Komplikationen usw.), waren nicht geplant. Sie dachten, sie würden den Gürtel für ein paar Monate enger schnallen. Es ist anders gekommen. Und es sind die Bevölkerungen, die die Rechnung bezahlen und noch sehr lange bezahlen werden.

Bleibt nach dem Scheitern Israels und der Türkei noch ein Platz für Vermittlung? China?
Wenn man von Vermittlung – durch China oder wen auch immer – spricht, steht dahinter kein wirkliches Einflusspotenzial. Es wäre nur eine Art Schutzwall zwischen zwei Parteien, zwischen Russland und der Ukraine, der nicht in der Lage ist, irgendjemanden zu beeinflussen. Selbst die Ukraine hätte bei solchen Verhandlungen nichts zu melden. Echte Friedensverhandlungen sind nur zwischen Russland und den USA möglich. Alle anderen Parteien, die die Rolle des Vermittlers oder Teilnehmers spielen wollen, sind nur Statisten.

Wenn Emmanuel Macron, der die Waffen und die Munition liefert, mit denen Russen getötet werden, sich als Vermittler ins Spiel bringt, fällt es mir schwer zu verstehen, was in seinem Kopf vor sich geht – sich vorzustellen, dass Moskau auch nur für einen Moment die verrückte Idee akzeptiert, ihm auch nur die geringste Rolle in künftigen Gesprächen zu gewähren.

Wenn man sagt, dass echte Friedensverhandlungen nur zwischen Russland und den USA möglich sind, muss man betonen, dass die USA in der Vergangenheit, z.B. während der Kubakrise, des Koreakriegs und des Vietnamkriegs, immer gewillt waren, Vereinbarungen oder einen Konsens zu finden, die Regierung in Washington in den letzten Jahren jedoch eine Art der politischen Degenerierung durchgemacht hat. Sie macht nicht einmal im Ansatz den Versuch, eine Einigung zu erreichen. Das ist eine sehr gefährliche Tendenz. Wenn die Leute, die Joe Biden ins Amt gebracht haben und die Fäden ziehen, auch nach November 2024 an der Macht bleiben, sehe ich die mittelfristige Zukunft der Welt sehr schwarz.

Es ist also eine Frage des Willens und nicht der Vermittlung. Moskau hat den Willen, auch wenn es zu Beginn des Konflikts die Absicht hatte, das ukrainische Regime abzulösen. Wenn man aber feststellt, dass ein gewisser Teil der Ukrainer unter dem derzeitigen Regime bleiben will, dann sollen sie eben dort bleiben… Jene Gebiete hingegen, die immer zutiefst prorussisch waren und deren Bewohner mehrheitlich nicht unter dem neuen ultranationalistischen, russophoben Regime in Kiew leben wollen und das nie wollten, werden niemals der Ukraine überlassen werden. Ebenso wenig wird Russland die Militäroperationen beenden, ohne dass sich die Ukraine offiziell verpflichtet, niemals der NATO beizutreten, da dies aus den bereits genannten Gründen einen künftigen Atomkrieg nahezu unvermeidlich machen würde.
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Rupert Koppold: Auf geht’s! Tschaikowsky, Tolstoi und Co. ausmerzen!
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„Warum sanktioniert man nicht die russische Kultur?“
Der Erich-Maria-Remarque Friedenspreis 2023 geht dieses Jahr übrigens an die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, den Sonderpreis erhält der ukrainische Zeichner Sergiy Maidukov. Man müsse aber akzeptieren, so die Jury, dass, solange der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine nicht beendet sei, die Preise nicht für beide gleichzeitig verliehen werden könnten. Weil sich nämlich Majdukov weigert, mit einer Russin, und sei sie noch so sehr gegen den Krieg, auf einem Podium zu erscheinen. Nein, dieser Kulturboykott alles Russischen ist keine Ausnahme, sondern offizielle ukrainische Politik. Dieser „Quarantäne“-Politik müsse sich auch Deutschland anschließen, fordert der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko in einem Interview mit der Zeit:

„Russischen TV-Sendern wurden in Deutschland die Lizenzen entzogen, warum sanktioniert man nicht die russische Kultur?“ 

Der ukrainische Wunsch wird in Deutschland gern erfüllt. Unsere blaugelb durchflaggten Kultureinrichtungen laden aus und werfen raus, ändern ihre Programme – weg mit Tschaikowsky! – und werden dabei unterstützt von Kulturjournalisten, die mit inquisitorischem Eifer von russischen Künstlern Reuebekenntnisse, Rücktritte und größtmögliche Putin-Distanzierung einfordern. (Kleiner Einschub zum Russen-Künstler-Canceln: „Wenn jemand in einem solchen Fall zur Begründung direkt an das Russische anknüpft, ist das ganz klar ein Verstoß gegen das Antidiskriminierungsrecht“, sagt der Rechtsanwalt Viktor Winkler am 22. März 2022 in SWR 2.) Als der Baden-Badener Intendant trotz allem darauf beharrt, Teodor Currentzis dirigieren zu lassen („Es darf niemand gezwungen werden, eine Meinung zu äußern. Und in der Demokratie müssen wir Meinungen aushalten, die von den unseren abweichen.“), stellt das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung am 6. November 2022 die denkwürdige Frage:

„Fällt die Haltung zu einem Krieg, in dem Tausende Menschen sterben, aber tatsächlich noch unter den Begriff Meinungsfreiheit?“ 

Wenn damals, wir sprechen von der deutschen Nazizeit (die freilich nicht mit dem heutigen Russland verglichen werden soll!), die US-Kulturpolitik gegen alles Deutsche gekämpft und Exilautoren wie Thomas Mann oder Stefan Zweig als Aussätzige behandelt hätte, wäre auch da größtes Verständnis angebracht gewesen? Aber es wird ja sogar die Verleihung des Friedensnobelpreises 2022 an Menschenrechtler aus der Ukraine, Belarus und Russland in der Ukraine scharf kritisiert, zum Beispiel, so der Spiegel (8. Oktober 2022), von Selenskis Berater Mychajlo Podoljak: Das Nobelpreiskomitee habe eine interessante Auffassung des Wortes „Frieden“, wenn den Friedensnobelpreis zusammen „Vertreter zweier Länder erhalten, die ein Drittes überfallen haben“. 

Die Berlinale aber macht es laut Selenski richtig, in seiner zugeschalteten Video-Rede sagt er unter großem Applaus:

„Die Berlinale hat ihre Wahl getroffen, indem sie den Dialog ohne Grenzen hochhält. Das Kino aus der ganzen Welt ist zu Gast. Dass Filme, die mit russischer Unterstützung gemacht wurden, dieses Jahr nicht im Festival vertreten sind – das wissen wir zu schätzen, dafür sind wir dankbar.“ 

Offene Grenzen und gleichzeitig Zensur? Selenski sieht darin keinen Widerspruch. Und die Berlinale offenbar auch nicht.

Sollte die Kultur nicht eigentlich einstehen für Verständnis und Toleranz, ist sie nicht unter anderem dazu da, Brücken zu bauen statt Gräben aufzureißen? Georg Seeßlen schreibt in der taz vom 4. Mai 2022: 

„Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist Kultur dafür zuständig, Menschen und Gesellschaften den Umgang mit der Kompliziertheit von Welt und Geschichte zu ermöglichen. Kein Wunder also, dass sie von bestimmten Menschen und Institutionen so gehasst wird. Umgekehrt nämlich ist Politik offenbar nie zu denken ohne das Versprechen der großen Vereinfachung. Der politische Druck auf Kultur wächst in Zeiten der Krise. Doch es gibt einen Punkt der freiwilligen wie der erzwungenen Vereinfachung, an dem wir nicht mehr von Kultur, sondern von Propaganda sprechen sollten.“

Wie willfährig sich unsere Kultur zum Propagandainstrument machen ließ, schlimmer noch: wie schnell sie sich selber zu einem solchen gemacht hat, ist ebenso erstaunlich wie erschreckend. 

Und noch einmal: Diese Selbstverständlichkeit, mit der die ukrainischen Positionen toleriert und propagiert werden! Der Jurist und Autor Thomas Fischer konstatiert am 30. September 2022 im Spiegel:
„Was immer an rassistischen Stereotypen und Verdammungen in den letzten 75 Jahren unter der Decke geblieben ist, ist wieder da und salonfähig.“ 

„Kein Platz mehr für Ambivalenzen“
Als der Friedenspreisträger Serhij Zhadan auch im Stuttgarter Literaturhaus seine martialischen Bekenntnisse verbreitet – er hat den Entsicherungsring einer Handgranate mitgebracht! – schreibt die Stuttgarter Zeitung (11. Oktober 2022), es sei in der aktuellen Situation eben „kein Platz mehr für Ambivalenzen“, auch sei ein „unterhinterfragter Pazifismus“ zu kritisieren, und wer „unbehaglich zusammenzucke“, wenn in einem Literaturhaus nach Waffen gerufen werde, dem sei zu empfehlen: „Wir sollten weniger sprechen, sondern zuhören, was die Ukrainer zu sagen haben.“ Aber das ist eben das Problem: Je mehr wir diesen Ukrainern zuhören (und andere dürfen bei uns nicht sprechen), desto unheimlicher wird die Sache. 

Im Bundeskanzleramt etwa erklärt die ukrainische Sängerin Marina Sadovska: „Wenn die Welt untergeht, wenn wir der Ukraine helfen, dann soll es halt so sein.“ Noch einmal Thomas Fischer, der am 1. April 2022 die vom Weltuntergangsfuror „tief beeindruckte“ FAZ zitiert: „Wir müssen ertragen, dass sie (die Sängerin) mit keinem Wort an unser Mitleid appellierte, sondern Forderungen der Gerechtigkeit aufstellte, also in unserem eigenen Interesse sprach.“ Fischer dazu: „Die Frage sei gestattet: Ist das noch Unsinn oder schon religiöser Wahn?“ Im Tagesspiegel vom 4. Oktober 2022 schreibt Nadiia Kulish zum Thema „Aufnahme von Flüchtlingen beziehungsweise von Kriegsdienstverweigerern aus Russland“: „Ich möchte nicht mit russischen Männern in Berlin in der U-Bahn fahren.“ 
Die taz berichtet am 2. August 2022 von einem Treffen zwischen fünf deutschen und 17 ukrainischen Journalisten, bei dem Letztere unisono erklären: „Ein Dialog mit Russ*innen, ja allein der Umstand, ihnen ein Forum zu bieten, sei inakzeptabel und komme einer Zumutung gleich. Schließlich sei ein/e jede/r von ihnen schuld an diesem Krieg. Schon eine Getränkekarte, die in dem Raum auf den Tischen liegt, wird als Provokation gewertet. Denn auch der russische Wodka „Moskowskaja“ ist im Angebot.“ 

Russland als Reich des absolut Bösen
Schauen wir auch mal rein in die zu Propaganda-Sendungen verkommenen Kulturmagazine des öffentlich-rechtlichen Fernsehens! Etwa in „Aspekte“, wo schon lange vor dem Krieg die als Frage verkleidete Forderung „Kulturaustausch mit Russland beenden?“ auftaucht. Oder in „Kulturzeit“ auf 3Sat, wo Transatlantik-„Experten“ das Ende von Österreichs Neutralität fordern, den Verhandlungsaufruf von Wagenknecht und Schwarzer als „intellektuelles und moralisches Debakel“ denunzieren oder die Sportpalast-Rede Goebbels’ in direkten Zusammenhang mit Putin stellen. Immer wieder wird Russland als Reich des absolut Bösen bezeichnet, immer wieder sind alle, aber wirklich alle Russen verabscheuenswert, immer wieder tritt ein offener Rassismus und ein Denunziationswille zutage, die einem den Atem rauben. (...)

 


 

Fassadenkratzer: Bodeneigentum – das beschwiegene soziale Grundübel

In Deutschland müssen die meisten Menschen zur Miete wohnen, und die Wohnungsnot wird immer größer. Denn es gibt nicht genug Wohnungen für alle. Bundesweit fehlen ca. 700.000. Doch das Bauen stockt, denn die Baukosten, die Grundsteuern sowie teure linksgrüne Auflagen wachsen. Dazu strömen unaufhörlich Massen von vielfach bevorzugten Migranten ins Land. Und so steigen die Mieten weiter und werden für immer mehr Menschen unbezahlbar, so dass sie mit weniger Wohnraum und primitiven Wohnverhältnissen vorlieb nehmen müssen oder gar in die Obdachlosigkeit absinken. Doch das allem zugrunde liegende soziale Übel des privaten Eigentums an Grund und Boden wird nicht thematisiert.

Um gleich einem Einwand vorzubeugen: Es geht hier nicht um kommunistische Ideologie, sondern um eine sachliche Analyse des Problems und notwendige Überlegungen, wie es gelöst werden könnte. Denn der Sachverhalt stellt sich für jedermann objektiv ganz eindeutig dar. Und er ist bitter ernst.

Das grundlegende Problem
So wie jeder Mensch Luft zum Atmen braucht, so auch ein Stück Erde, auf dem er wohnen und sich nachts zum Schlafen hinlegen kann. Der Boden ist notwendige Lebens- und Arbeitsgrundlage aller Menschen. Wenn sich aber der gesamte Grund und Boden nur im Eigentum eines Teiles der Bevölkerung befindet, ist der andere Teil von diesem existenziell abhängig. Da das private Eigentumsrecht ein dauerhaftes alleiniges Verfügungsrecht über das Grundstück bedeutet, kann der Eigentümer die Bedingungen setzen, unter denen er anderen Zugang zu seinem Grundstück gewähren, sprich, es ganz oder teilweise zu einer bestimmten Nutzung verpachten oder darauf errichteten Wohnraum vermieten will.

Es kommt also von vorneherein kein Rechtsverhältnis unter Gleichen zustande, wie es rechtsstaatlich erforderlich ist, sondern der Eigentümer sitzt am längeren Hebel, er kann die existenzielle Not des Nichteigentümers, irgendwo sein Haupt hinlegen zu müssen, ausnutzen und weitgehend seine finanziellen Bedingungen diktieren. Er kann eine Miete fordern, durch die ihm nach Abzug der eigenen Aufwendungen ein dauerhaftes leistungsloses Einkommen zuwächst, das andere für ihn ständig erarbeiten müssen. Das Bodenmonopol versetzt wenige in die Lage, Zahlungen einzig aufgrund ihres Eigentumsrechtes zu erhalten und nicht dafür, dass sie eine Leistung erbringen. Sie können andere Menschen gleichsam wie Sklaven für sich arbeiten lassen.

Diese existenzielle Abhängigkeit ist das grundsätzlich Erniedrigende und Entwürdigende für die betroffenen Menschen. Dass der Miethöhe gewisse (aber in der Realität sehr weite) rechtliche Grenzen gesetzt sind, ändert nichts an der prinzipiellen Situation.

Man muss sich das in aller Deutlichkeit vor Augen halten: Die Bodeneigentümer haben das private Recht, andere vom Zugang zu einem für sie existenziell notwenigen Grundstück auszuschließen, durch Bedingungen zu erschweren oder auch unmöglich zu machen. Das Eigentum verbindet hier willkürlich Teile der Erde, die prinzipiell allen Menschen als Lebensgrundlage zur Verfügung stehen müssen, mit der persönlichen, privaten Verfügungsgewalt Einzelner. Der Boden ist gleichsam zum Raub eines Teiles der Bevölkerung geworden, der dadurch Macht über die Anderen ausüben und sie zum eigenen Vorteil ausbeuten kann.

Das Wort privat drückt die historische Realität auch aus. Es stammt vom lateinischen Verb „privare“ ab, das ursprünglich „rauben“ bedeutete. Ausgangspunkt für Besitz- und Eigentumsverhältnisse waren ja immer Eroberungen oder Inbesitznahmen von Völkerschaften, deren herrschende Fürsten sich des Bodens bemächtigten und ihren Getreuen davon in Form von Lehen, Pacht oder dauerndem Besitz abgaben. Aus der Macht wurden Rechte abgeleitet, Rechte auf Grund und Boden, die weitervererbt oder an diejenigen verkauft wurden, die den gesetzten Preis bezahlen konnten. Die so entstandenen sozialen Verhältnisse werden einfach nur unbewusst fortgesetzt, bis heute.

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