Lesefrüchte

August 2023

 

Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind und zitieren Auszüge. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.

 


Lesefrüchte im vergangenen Monat
Udo Brandes: Die Renaissance des Freund-Feind-Denkens 
Dagmar Henn:
Die "Inklusion" im Bildungssystem – Heuchelei und Verbrechen an ...
Patrik Baab:
„Wir brauchen eine Strategie gegen die Angst.“

Pepe Escobar:
Geopolitische Schachbrettverschiebungen

 


 

Udo Brandes: Die Renaissance des Freund-Feind-Denkens – Indikator für einen neuen Totalitarismus?
Immer häufiger werden in politischen Debatten Andersdenkende massiv ausgegrenzt. Ganz zu schweigen von der seit Jahren immer schlimmer werdenden „Cancel-Culture“, die auf die berufliche und soziale Vernichtung Andersdenkender aus ist. Solchen Vorgängen gemeinsam ist ein Denken, das dem „Anderen“ kein Recht mehr auf eine Meinung zugesteht, die von der Mehrheitsmeinung oder der Meinung der Eliten abweicht. Es wird nicht mehr argumentiert, sondern radikal ausgrenzt. Dies alles erinnert an den berühmten Aufsatz „Der Begriff des Politischen“ des Staatsrechtlers und politischen Philosophen Carl Schmitt. Für diesen bestand das Politische in der Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Er lieferte damit dem nationalsozialistischen Staat eine geradezu perfekte Legitimation für Terror und Krieg.

Wer war Carl Schmitt?
Carl Schmitt (1888-1985) war vor allem eines: der Prototyp eines skrupellosen Opportunisten. Dabei aber hochintelligent. Und obwohl er ein bekennender Nazi war, sind seine Publikationen bis heute in der Politikwissenschaft relevant. Und das hat seinen Grund, den man besonders gut mit seiner Schrift „Der Begriff des Politischen“ veranschaulichen kann. Er hat darin Politik bzw. das Politische beschrieben, wie es sich auch tatsächlich in der empirischen Wirklichkeit nachweisen lässt. Und es ist gar nicht so einfach, ihn zu widerlegen. Denn Schmitt argumentiert messerscharf. Der Spiegel (Autor: Thomas Darnstädt) schrieb 2008 in einem Spiegel Special Geschichte Folgendes über ihn:

„Carl Schmitt, Staatsrechtler in der Weimarer Republik und im ‚Dritten Reich‘, war der Prototyp des gewissenlosen Wissenschaftlers, der jeder Regierung dient, wenn es der eigenen Karriere nutzt. Wann immer die Nationalsozialisten Menschen beiseiteräumen wollten, der eitle Professor aus dem Sauerland lieferte ihnen die passende rechtliche Begründung.“ 
(...)

Schmitts Begriff des Politischen
Was ist das „Politische“ nach Carl Schmitt? Worauf lassen sich politische Handlungen und Entscheidungen ihm zufolge zurückführen? Schmitt hat dafür ein Kriterium:

„Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“ (Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 25). 
Bei dieser Definition spielt das Anderssein eine große Rolle:

„Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch hässlich zu sein; er muss nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas Anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im Voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ‚unbeteiligten‘ und daher ‚unparteiischen‘ Dritten entschieden werden können.“ (S. 26). 
(...)

Es geht nicht um etwas Privates und deshalb gelte:
„Feind ist also nicht der Konkurrent oder der Gegner im Allgemeinen. Feind ist auch nicht der private Gegner, den man unter Antipathiegefühlen hasst. Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht. Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird.
(...)

Die Freund-Feind-Unterscheidung kann zu irrationalem Verhalten führen
Ein weiteres Detail aus Schmitts Schrift ist sehr interessant – weil man auch diese Behauptung Schmitts in der Realität, also der politischen Praxis, wiederfinden kann. Schmitt schreibt:

„Die reale Freund-Feindgruppierung ist seinsmäßig so stark und ausschlaggebend, dass der nichtpolitische Gegensatz in demselben Augenblick, in dem er diese Gruppierung bewirkt, seine bisherigen ‚rein‘ religiösen, ‚rein‘ wirtschaftlichen, ‚rein‘ kulturellen Kriterien und Motive zurückstellt und den völlig neuen, eigenartigen und von jenem ‚rein‘ religiösen, ‚rein‘ wirtschaftlichen und andern ‚reinen‘ Ausgangspunkt gesehen oft sehr inkonsequenten und ‚irrationalen‘ Bedingungen und Folgerungen der nunmehr politischen Situation unterworfen wird“ (S. 36). 
Fällt Ihnen dabei etwas aus der jüngeren Vergangenheit ein? Mir fiel sofort die Sanktionspolitik der EU ein, die insbesondere in Deutschland zu erheblichen Schäden der Wirtschaft führte, mit der Konsequenz einer hohen Inflation, einer wirtschaftlichen Rezession und für viele Bürger wegen der stark gestiegenen Energiepreise zu wirtschaftlich existentiellen Bedrohungen führte. Umgekehrt wandelte sich Saudi-Arabien aus Sicht der Ampel-Regierung und dabei insbesondere für den Grünen-Politiker Robert Habeck zu einem politischen Freund. Menschenrechte waren plötzlich kein Thema mehr. Kann einem da nicht der Verdacht kommen, dass Carl Schmitt Recht haben könnte?
(...)

Kommen wir nach Deutschland. Schon seit Jahren „blüht“ hier die Cancel-Culture, die darauf abzielt, Menschen, die eine andere Meinung als die herrschende Elite oder die Mehrheit vertreten, aus der Gesellschaft auszuschließen und als Feind zu betrachten, den man zwar nicht physisch, aber sozial und beruflich vernichten will. Auch wenn die Meinung der Andersdenkenden völlig im Rahmen unserer Verfassung bleibt. Ein Beispiel für dieses radikale Denken nach dem Freund-Feind-Muster ist das Mobbing von Medien, der Bonner Universität und Studenten gegen die Politologin Ulrike Guérot. Ihr „Verbrechen“: Eine abweichende Meinung zur Corona-Politik der Bundesregierung und dem Ukrainekrieg. Das Interessante dabei: Ausgerechnet diejenigen, die ständig „Diversität“ einfordern, beweisen immer wieder, dass sie einem Homogenitätswahn verfallen sind und abweichende politische Meinungen oder sonstige abweichende Haltungen nicht ertragen können. Man könnte auch sagen: Sie haben ein Problem mit Pluralismus und Meinungsfreiheit. Und das heißt letztlich: mit Demokratie. Weil sie einem Verständnis des Politischen anhängen, wie es Carl Schmitt formuliert hat: der Unterscheidung zwischen Freund und Feind.

Welche Schlussfolgerungen muss man daraus ziehen?
Hat Carl Schmitt also Recht? Bedeutet Politik die Unterscheidung zwischen Freund und Feind? Er hat in dem Sinne recht, dass ganz offensichtlich Menschen immer wieder Politik so verstehen, so denken und so politisch handeln. Aber: Das ist kein Naturgesetz. Sondern das ist eine Frage der politischen Kultur.

Carl Schmitts Begriff des Politischen ist die (politik)philosophische Entsprechung eines faschistischen Homogenitätswahnes und der Unfähigkeit, Interessengegensätze und Widersprüche auszuhalten. Demokratie aber heißt genau dies: Widersprüche, Gegensätze und Fremdes aushalten zu können. Das ist eine Fähigkeit, die nicht vom Himmel fällt und gesellschaftlich immer wieder neu eingeübt werden muss. Und die um so schwerer fällt, um so mehr eine Gesellschaft von Krisen bedroht ist. Und davon hat unsere Gesellschaft ja nun wahrlich genug.

Was aber bedeutet es, dass sich in unserer Gesellschaft ein Freund-Feind-Denken immer mehr ausbreitet? Es bedeutet leider, dass sich eine antiplurale Haltung in der Gesellschaft ausbreitet. Und das wiederum bedeutet, dass die Gesellschaft empfänglich geworden ist für antidemokratisches und totalitäres Denken. Und das gilt keineswegs nur für die üblichen Verdächtigen, also für Rechtsextremisten. Auch in den Milieus, die sich selbst als „linksliberal“ oder „liberal“ verorten, aber auch in staatlichen Institutionen, kann man immer häufiger ein Verständnis von Politik erkennen, das nach dem Schmittschen Muster der Unterscheidung von Freund und Feind funktioniert. Und das ist brandgefährlich für eine Demokratie. Deshalb ist eines wichtig: Dass die Destruktivität und der totalitäre Charakter des Freund-Feind-Denkens immer wieder benannt wird. Egal, aus welcher Ecke oder von welchem politischen Akteur es kommt.

 



Dagmar Henn: Die "Inklusion" im Bildungssystem – Heuchelei und Verbrechen an der Zukunft

Es geht hier nicht um Björn Höcke, sondern um den Begriff „Inklusion“ und die Debatte, die eine Interview-Äußerung von ihm ausgelöst hat. Und es geht um „Ideologie“ (oder das Ideal) im Gegensatz zu seiner Umsetzung in der „Wirklichkeit“. Und es geht darum, diese beiden Ebenen nicht zu verwechseln, denn „die Wahrheit ist konkret“.

(...) 

„Unter anderem müssen wir das Bildungssystem auch befreien von Ideologieprojekten, beispielsweise der Inklusion, beispielsweise auch dem Gender-Mainstream-Ansatz.“

Tatsächlich gibt es also nur die Bezeichnung von Inklusion als "Ideologieprojekt". Wobei Höcke damit noch ausgesprochen zaghaft ist, denn in Wirklichkeit handelt es sich um eine gut getarnte Sparmaßnahme, die das Bildungssystem für alle Beteiligten dysfunktional werden lässt. Aber dazu später mehr.

Inzwischen verbreitet sich die Empörung über alle Kanäle. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung wird vom Deutschlandfunk etwa sinngemäß zitiert, "gleichberechtigte Teilhabe an allen Lebensbereichen sei ein Menschenrecht und ein zentraler Wert der Demokratie. Wer Inklusion infrage stelle, greife die Demokratie an". Oder die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, die ihre Ministerpension als Bundesvorsitzende der "Bundesvereinigung Lebenshilfe" aufstockt, kommentiert:

"Dieses Recht infrage zu stellen, erachten wir als Tabubruch und schlicht als Skandal. Angesichts dieser menschenfeindlichen Haltung können wir nur ahnen, wie Herr Höcke mit Menschen mit Behinderung umgehen möchte." (...)

Natürlich kann man sich auf dieser Ebene um das Thema streiten, wobei genau diese Art des Streits im Grunde bestätigt, dass Höcke recht hat. Denn der Streit wird eben ideologisch geführt und nicht unter Berücksichtigung der konkreten Situation.

In meiner Zeit im Münchner Stadtrat war die Inklusion noch eine politische Forderung. Man befasste sich mit Modellen etwa aus skandinavischen Ländern, in denen teilweise für jeden einzelnen Schüler eine Unterrichtsassistenz gestellt wurde, zumindest aber eine zweite Lehrkraft anwesend war, um die zusätzlichen Aufgaben zu bewältigen, die nun einmal entstehen, wenn Kinder mit allen möglichen Behinderungen, von Seh- oder Hörbehinderungen bis zu massiven psychischen oder kognitiven Störungen, am Unterricht teilnehmen. Das klang gut und weckte bei vielen, die sich der Schäden bewusst sind, die die permanente Konkurrenz und Auslese bei den Schülern wie in den Lehrplänen anrichtet, die Hoffnung, dass einige der im (west-)deutschen Bildungswesen tief eingegrabenen Fehlsteuerungen bei dieser Gelegenheit mit beseitigt werden könnten.

Aber wie das in den letzten Jahrzehnten bei so gut wie allen so edel klingenden Projekten ist, sah das Ergebnis völlig anders aus und hatte nichts, aber rein gar nichts mehr mit der erwarteten Verbesserung zu tun. "Gleichberechtigte Teilhabe" übersetzte sich bestenfalls in "gleiches Elend für alle", abgesehen von den Kindern jener, die für teure Privatschulen zahlen konnten, die selbstverständlich nicht dazu verpflichtet sind, dem Inklusionsansatz zu folgen und sich ihre Schüler selbst aussuchen können.

Die Wahrheit ist konkret. Die Wahrheit über die "Inklusion" ist, dass die Umsetzung jeder Erwartung Hohn spricht. Hoch spezialisierte Einrichtungen, beispielsweise für Blinde, wurden aufgelöst; die Lehrkräfte irgendwie verteilt, um Lücken im Personal stopfen zu helfen, während die "Inklusionsklassen" nach wie vor so übergroß blieben, wie die Schulklassen in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern seit Jahrzehnten sind, nur dass nun in diesen großen Klassen auch noch Schüler sitzen, die einen besonderen Förderbedarf haben, aber nicht bekommen.

So werden etwa Kinder mit diagnostiziertem Autismus in normale Klassen gesetzt, was kein Problem sein müsste. Doch die Lehrer, die diese Klassen betreuen, kennen nicht einmal die Richtlinien der Kultusministerkonferenz zum Umgang mit autistischen Schülern und reagieren deshalb auf das erwartbare Verhalten mit ganzen Stapeln von Schulstrafen. Kinder mit motorischen Einschränkungen können froh sein, wenn sie die Pausen nicht im Klassenzimmer verbringen müssen. Es ist nicht nur für die "normalen" Kinder eine Katastrophe. Die "behinderten" Kinder haben die gesamte Struktur, die einmal aufgebaut wurde, um ihnen Zugang zur Bildung zu ermöglichen, verloren, ohne dass irgendetwas an ihre Stelle getreten ist.

Inklusion wurde nicht nur damit begründet, dass es Kindern mit Einschränkungen ermöglicht wird, als normaler Teil der Gesellschaft aufzuwachsen, statt in einem abgesonderten Spezialbereich. Sie wurde auch damit begründet, dass der Umgang mit Behinderungen normal werden soll, dass das gemeinsame Erleben auch die Akzeptanz erhöhen würde. Was aber ist das tatsächliche Ergebnis?

In einer Situation, in der – bedingt durch den Lehrermangel – größere Teile des Unterrichts ausfallen, also nicht einmal eine zweite Lehrkraft für die Klasse möglich ist – von Unterrichtsassistenz ganz zu schweigen –, in der sich das Hauptziel des deutschen Bildungswesen keinen Zentimeter von der Aufgabe entfernt hat, möglichst viele vor höheren Abschlüssen scheitern zu lassen, und alles, was es sich leisten kann, an die wuchernden Privatschulen flieht, sorgt diese Art der Inklusion mitnichten für eine höhere Akzeptanz der behinderten Klassenkameraden, sondern für das genaue Gegenteil. Sie werden zum Ziel einer massiven Ablehnung. Wie auch nicht? Wir reden von Kindern. Und wie viele Lehrer stellen sich schon vor die Klasse und erklären ihren Schülern, dass sie die Opfer von gut getarnten Sparplänen geworden sind und die Mitschüler, die den Unterricht zu stören scheinen, nichts dafür können?

Das, was "Inklusion" in Deutschland wirklich bedeutet, ist gewissermaßen ein Musterbeispiel für das Verhältnis zwischen politischen Aussagen und Beschlüssen und der dadurch geschaffenen Wirklichkeit. So ähnlich, wie die "Transparenz", die als Begründung für europaweite Ausschreibungen diente, am Ende die Zerstörung kleinerer Handwerksbetriebe betrieb, oder wie der "Klimaschutz" gerade völlig bewohnbare Wohnungen unbewohnbar macht.
So nett und edel und menschlich die Aussagen all jener klingen, die sich auf dieses winzige Höcke-Zitat stürzen, um jetzt vehement den vermeintlichen Zweck der "Inklusion" zu verteidigen, die keine ist, so sehr machen sie sich damit zum Komplizen des Verbrechens, das dadurch an allen betroffenen Kindern und Jugendlichen – allen voran an den vermeintlich begünstigten Behinderten – begangen wird. Jedes Mal, wenn ich Berichte aus heutigen Schulen lese oder höre, schlage ich selbst als eingefleischte Atheistin drei Kreuze und freue mich ganz unanständig, dass ich keine Kinder habe, die jetzt noch die Schule besuchen.

(...) Weiterlesen in der PDF-Sicherung des Artikels

 


Patrik Baab: „Wir brauchen eine Strategie gegen die Angst.“
Aus den Videoempfehlungen der NDS vom 02.08.2023

Patrik Baab [Auszüge transkribiert, CG]: “Der Westen hat wirtschaftliche Interessen und geostrategische Interessen. Ich möchte einmal mit den wirtschaftlichen Interessen beginnen. Die Ukraine verfügt über Millionen gut ausgebildeter Arbeitskräfte – im ernsten Land Europas. Das sind Arbeitskräfte, die durch die Migration – die Ukraine hat in den vergangenen 15 Jahren etwa 10 Millionen Menschen verloren durch die Migration – den westeuropäischen Arbeitsmarkt fluten. Und dadurch entsteht ein kontinuierlicher Druck auf die Löhne in ganz Westeuropa nach unten, vor allem auch in Polen und Deutschland. Daran hat die Kapitalseite ein starkes Interesse. Gut ausgebildete Fachkräfte, die es für die Hälfte machen. Zum Zweiten ist die Ukraine jetzt schon eine verlängerte Werkbank für beispielsweise Automobilzuliefer. Kabelbäume werden da gefertigt, Bekleidungsstücke werden da gefertigt. Das alles geht nur, weil man in der Ukraine Arbeitskräfte findet, die es noch billiger machen, die noch weniger Rechte haben, die noch mehr in Heimarbeit unterwegs sind. Dann geht es in der Ukraine – auch das ist ein massives wirtschaftliches Interesse – um die Kontrolle der Nahrungsmittelkette. Westliche Agrarkonzerne kaufen sich in das Land der Ukraine ein oder pachten Land in Kooperation mit Agrar-Oligarchen und verarbeiten dort, setzen dort, genmanipuliertes Saatgut ein, um auf den fruchtbarsten Böden der Welt, den Schwarzerde-Böden die Produktion nach oben zu treiben, zu maximieren und vor allem auch, die Produktion zu verbilligen. Das wird einen erheblichen Druck auf alle westeuropäischen Landwirte ausüben. Sie werden nicht so günstig produzieren können, wie in der Ukraine produziert werden kann. Es gibt noch einen weiteren wirtschaftlichen Grund: Schon längst haben Konzerne wie Shell damit begonnen, die Ölschlämme in der Nordostukraine und die Gasvorkommen im Schwarzen Meer zu explorieren. Es geht wieder um Energie, es geht um Öl und Gas. Wenn nun die Russen die Gebiete, die sie jetzt besetzt haben, besetzt halten, dann ist das Geld umsonst ausgegeben gewesen. Und weiter gibt es natürlich geostrategische Interessen. Es geht darum, Russland einzukreisen, einen ‘Cordon’ von Militärstützpunkten um Russland herumzulegen. Es gab auch schon 2014 Pläne zur Übernahme von der Marinebasis Sewastopol. Die Briten haben bereits jetzt Marinebasen in der Nähe von Odessa. Die NATO hat Übungen, Militärmanöver durchgeführt. Es geht vor allem langfristig auch darum, amerikanische Raketen den Russen vor die Nase zu stellen.”

Tom Wellbrock: “Mit welchem Ziel? Angriff…?”

Patrik Baab: “Nun, in den Militärdoktrinen beider Seiten ist natürlich nie von Angriff die Rede, sondern wenn überhaupt, von Präventivschlag. Aber es gibt von der RAND-Corporation entsprechende Papiere und der langjährige sicherheitspolitische Berater mehrerer US-Präsidenten Zbigniew Brzeziński hat das auch deutlich geschrieben in seinem Buch ‘The Grand Chessboard’. Es gibt Pläne, Russland zu zerlegen, nachhaltig zu schwächen, das Land aufzuteilen, um sich billiger und leichter die russischen Rohstoffe zu eigen machen zu können. Diese Pläne gibt es. Das kann man nachlesen, ist also jetzt nicht von mir erfunden.”

 


Pepe Escobar: Geopolitische Schachbrettverschiebungen gegen das US-Imperium
Übersetzung LZ

Das geopolitische Schachbrett befindet sich in ständiger Bewegung – und nie mehr als in der gegenwärtigen Phase des Glühens.

Ein faszinierender Konsens in den Diskussionen unter chinesischen Wissenschaftlern – einschließlich derjenigen, die zur asiatischen und amerikanischen Diaspora gehören – ist, dass nicht nur Deutschland/EU Russland verloren haben, vielleicht unwiederbringlich, sondern dass China Russland gewonnen hat, mit einer Wirtschaft, die Chinas eigene in hohem Maße ergänzt, und mit soliden Verbindungen zum globalen Süden/zur globalen Mehrheit, die Peking zugute kommen und helfen können.

In der Zwischenzeit sind einige wenige atlantische Außenpolitiker damit beschäftigt, das Bild von der NATO und Russland zu verändern, indem sie die Grundzüge der Realpolitik anwenden.

Die neue Sichtweise lautet, dass es “strategischer Wahnsinn” sei, wenn Washington erwarte, Moskau zu besiegen, und dass die NATO unter “Gebermüdigkeit” leide, da der Kriegstreiber im Sweatshirt in Kiew “an Glaubwürdigkeit” verliere.

Übersetzt heißt das, dass die NATO als Ganzes an Glaubwürdigkeit verliert, da ihre Demütigung auf dem Schlachtfeld der Ukraine nun für die gesamte globale Mehrheit schmerzlich sichtbar ist.
Außerdem bedeutet “Gebermüdigkeit”, dass man einen großen Krieg verliert, und zwar deutlich. Wie der Militäranalyst Andrej Martjanow unermüdlich betont hat, ist die “Planung” der NATO ein Witz. Und sie sind neidisch, schmerzlich neidisch und eifersüchtig”.

Ein glaubwürdiger Weg in die Zukunft besteht darin, dass Moskau nicht mit der NATO – einem bloßen Anhängsel des Pentagons – verhandelt, sondern den einzelnen europäischen Staaten einen Sicherheitspakt mit Russland anbietet, der ihre Mitgliedschaft in der NATO überflüssig machen würde. Dies würde jedem teilnehmenden Land Sicherheit garantieren und den Druck aus Washington verringern.

Man könnte Wetten abschließen, dass die wichtigsten europäischen Mächte dieses Angebot annehmen würden, aber sicher nicht Polen – die Hyäne Europas – und die baltischen Chihuahuas.
(...)

Das Projekt Ukraine als existenzieller Konflikt
Russland ist gezwungen, gegen einen Nachbarn und Verwandten zu kämpfen, den es sich einfach nicht leisten kann, zu verlieren; und als Atom- und Hyperschallmacht wird es das auch nicht.

Selbst wenn Moskau strategisch etwas geschwächt sein wird, sind es – nach Ansicht chinesischer Wissenschaftler – die USA, die ihren vielleicht größten strategischen Fehler seit der Gründung des Imperiums begangen haben: Sie haben das Ukraine-Projekt zu einem existenziellen Konflikt gemacht und das gesamte Imperium und alle seine Vasallen in einen totalen Krieg gegen Russland verwickelt.

Deshalb gibt es keine Friedensverhandlungen und nicht einmal einen Waffenstillstand; das einzig mögliche Ergebnis, das sich die straußischen Neokonservativen, die die US-Außenpolitik bestimmen, ausgedacht haben, ist die bedingungslose Kapitulation Russlands.

In der jüngeren Vergangenheit konnte es sich Washington leisten, die Kriege seiner Wahl gegen Vietnam und Afghanistan zu verlieren. Aber es kann es sich einfach nicht leisten, den Krieg gegen Russland zu verlieren. Wenn das geschieht, und es zeichnet sich bereits ab, wird der Aufstand der Vasallen weitreichend sein.
Es ist ganz klar, dass China und die BRICS+ – deren Erweiterung auf dem Gipfel in Südafrika im nächsten Monat beginnt – von nun an die Unterminierung des US-Dollars vorantreiben werden. Mit oder ohne Indien.
(...)
Die Schlüsselfrage ist, wie lange die Scheinwirtschaft des Imperiums – von Michael Hudson klinisch dekonstruiert – in diesem breit angelegten geoökonomischen Krieg durchhalten kann.
(...)

Russland-DVRK trifft auf Russland-Afrika  
(DVRK = Demokratische Volksrepublik Korea = Nordkorea, bm)
Erst in dieser Woche wurden auf dem Schachbrett zwei spielverändernde Züge vollzogen: der hochkarätige Besuch des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu in der DVRK und der Russland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg.
Schoigu wurde in Pjöngjang wie ein Rockstar empfangen. Er hatte ein persönliches Treffen mit Kim Jong-Un. Aufgrund des gegenseitigen Wohlwollens ist es gut möglich, dass Nordkorea schließlich einer der multilateralen Organisationen beitritt, die den Weg zur Multipolarität ebnen.

Das wäre wohl eine erweiterte Eurasische Wirtschaftsunion (EAEU). Den Anfang könnte ein Freihandelsabkommen zwischen der EAEU und der DVRK machen, wie es bereits mit Vietnam und Kuba geschlossen wurde.
(...)
Die russische Diplomatie setzt auf höchster Ebene alles daran, den Druck auf die DVRK zu mindern. Strategisch gesehen ist das ein echter Wendepunkt: Stellen Sie sich vor, der riesige und ziemlich ausgeklügelte industriell-militärische Komplex Nordkoreas käme zur strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China hinzu und würde das gesamte asiatisch-pazifische Paradigma auf den Kopf stellen.

Der Russland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg war an sich schon ein weiterer Wendepunkt, der die kollektiven westlichen Mainstream-Medien in helle Aufregung versetzte. Es handelte sich um nichts Geringeres, als dass Russland öffentlich in Worten und Taten eine umfassende strategische Partnerschaft mit ganz Afrika ankündigte, während der feindlich gesinnte Westen einen Hybridkrieg gegen Afro-Eurasien – und andere Länder – führt.
(...)
Der Umfang des Forums war recht beeindruckend. Es gab Panels zum Thema “Entkolonialisierung”, z. B. “Technologische Souveränität durch industrielle Zusammenarbeit” oder “Neue Weltordnung: vom Erbe des Kolonialismus zu Souveränität und Entwicklung”.

Und natürlich wurde auch der Internationale Nord-Süd-Verkehrskorridor (INSTC) erörtert, dessen entscheidende Erweiterung nach Afrika von den Hauptakteuren Russland, Iran und Indien vorangetrieben werden soll, um die NATO-Küstengebiete zu umgehen.

Unabhängig von der hektischen Aktion in St. Petersburg kam es in Niger zu einem Militärputsch. Auch wenn das Endergebnis noch nicht feststeht, wird Niger wahrscheinlich wie das benachbarte Mali seine außenpolitische Unabhängigkeit von Paris bekräftigen. Auch in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR) und Burkina Faso wird der französische Einfluss zumindest “zurückgesetzt”. Übersetzt: Frankreich und der Westen werden in einem unumkehrbaren Dekolonisierungsprozess Schritt für Schritt aus der gesamten Sahelzone vertrieben.

Hüte dich vor den fahlen Pferden der Zerstörung
Diese Bewegungen auf dem Schachbrett, von der DVRK über Afrika bis hin zum Chip-Krieg gegen China, sind ebenso entscheidend wie die bevorstehende, erschütternde Demütigung der NATO in der Ukraine. Doch nicht nur die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China, sondern auch die Hauptakteure des globalen Südens und der globalen Mehrheit sind sich darüber im Klaren, dass Washington Russland als taktischen Feind betrachtet, um den totalen Krieg gegen China vorzubereiten, der über allem steht.

Wie es aussieht, hält die immer noch ungelöste Tragödie im Donbass das Imperium auf Trab und vom asiatisch-pazifischen Raum fern. Dennoch gerät Washington unter den Strauss’schen Neocon-Psychos immer mehr in den Strudel der Verzweiflung, was es noch gefährlicher macht.

Und das alles, während der BRICS+-“Dschungel” die notwendigen Mechanismen in Gang setzt, um den unipolaren westlichen “Garten” ins Abseits zu stellen, während ein hilfloses Europa an den Abgrund getrieben wird und gezwungen ist, sich von China, BRICS+ und der faktischen globalen Mehrheit zu trennen.

Man muss kein erfahrener Wetterfrosch sein, um zu erkennen, aus welcher Richtung der Steppenwind weht – während die fahlen Pferde der Zerstörung das Schachbrett zertrampeln und der Wind zu heulen beginnt.
Quelle