Lesefrüchte
September 2020
Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind und zitieren Auszüge. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.
Oskar Lafontaine in FORUM: „Falsche Antworten auf soziale Frage“
Stefan Korinth: Schwarze Wahrheiten
Uli Gellermann: Freiheit ist links. Links hat das vergessen
Peter Vonnahme: Nawalny, Nowitschok und Nord Stream 2
Bräutigam & Klinkhammer: Nawalny-Nachrichten: Merkel erwirkt Denkverbot
Paul Schreyer: Faktencheck: Gibt es aktuell eine
Coronavirus-Pandemie in Deutschland?
Oskar Lafontaine in FORUM: „Falsche Antworten auf soziale Frage“
Die jetzige Wirtschaftsordnung ist nicht in der Lage, Probleme der Zukunft zu lösen, sagt Oskar Lafontaine. Er hält den Kurs der SPD für wenig glaubwürdig, die Grünen für wenig grün und den „progressiven Neoliberalismus” für eine Fehlentwicklung. (...)
Im Zuge der Pandemie gab es die Erkenntnis, dass bestimmte Bereiche „systemrelevant" sind, die vorher nicht so auf dem Schirm waren. Was geschieht jetzt mit dieser Erkenntnis?
Es wäre wünschenswert gewesen, dass in diesem Fall die Bundesregierung die Weichen gestellt hätte, dass die Löhne in diesen Bereichen stärker wachsen. Das System, um diesen Begriff zu verwenden, das sich in letzten Jahrzehnten aufgebaut hat, führt dazu, dass die systemzerstörerischen Kräfte irre Gehälter haben und irre Vermögen aufbauen, nehmen Sie Investmentbanker oder Chefs der US-Internetkonzerne, während die für unser Leben wirklich wichtigen Arbeitskräfte manchmal nicht einmal den Mindestlohn haben. Für mich ist das eine perverse Fehlentwicklung unseres Wirtschaftssystems.
Viele dieser „Fehlentwicklungen" sind in der Pandemie deutlich zutage getreten. Wird es daraus Konsequenzen geben oder schätzen Sie es eher pessimistisch ein?
Entscheidend ist, ob erkannt wird, dass die jetzige Wirtschaftsordnung bei wachsender Weltbevölkerung nicht in der Lage ist, die Probleme der Zukunft zu bewältigen. Die einzige prominente Stimme in der Welt, die das sagt, ist der Papst in Rom: Diese Wirtschaft tötet. Er hätte auch sagen können: sie zerstört unsere Lebensgrundlagen. Wenn diese Erkenntnis in der Politik nicht zu Konsequenzen führt, wird es so weitergehen. Selbst die Grünen, die im Programm haben, die Lebensgrundlagen zu erhalten, halten an der jetzigen Wirtschaftsordnung fest und sind daher auch nicht wirklich grün.
In der Corona-Krise haben wir zunächst eine große Welle von Hilfsbereitschaft erlebt. Inzwischen erleben wir oft das genaue Gegenteil, und offenbar gewinnen Anhänger von Verschwörungstheorien immer mehr Zulauf. Was dagegen tun?
Mit dem Begriff „Verschwörungstheorie", der bekanntlich von der CIA in Umlauf gesetzt worden ist, um Kritik an den Verbrechen der US-Regierung in aller Welt zu relativieren, gehe ich nicht gerne um. Es gibt Leute, die abenteuerlichen Unsinn behaupten, das ist richtig, aber das gab es nach meiner Beobachtung schon immer. Ich beobachte aber auch, dass unbequeme Kritik als „Verschwörungstheorie" gebrandmarkt wird. Das sollte nicht sein. Es gibt auch die neue Entwicklung „Cancel Culture", wo beispielsweise Kabarettisten oder Schriftsteller ausgeladen werden, weil sie etwas „unkorrektes" gesagt oder geschrieben haben. Das halte ich für falsch. Demokratie lebt auch von Diskussion mit Menschen, die anderer Meinung sind als man selbst.
Es gibt den legitimen Protest gegen Corona-Maßnahmen. Es gibt aber auch Versuche von Rechten und Rechtsextremen, das für sich zu vereinnahmen. Eine bedrohliche Entwicklung oder eine vorübergehende Zeiterscheinung?
Die Veranstalter von Kundgebungen müssen darauf achten, dass die Proteste nicht von Rechtsradikalen missbraucht werden. Wirklich bedenklich ist, dass die Rechte stark wird. Aber die wird nicht erst stark wegen Corona. Die Rechte ist stark geworden, weil die Antworten der Regierenden aus aller Welt auf die soziale Frage völlig falsch waren. Warum ist Trump groß geworden? Weil die Vorgängerregierung es nicht geschafft hat, Arbeitern, die ihre Industriearbeitsplätze verloren haben, eine Zukunftsperspektive zu eröffnen. Warum ist die AfD in Deutschland groß geworden? Weil Frau Merkel, unterstützt von anderen, gesagt hat, man könne unsere Grenzen nicht kontrollieren. Wenn Menschen sich in ihren Lebensverhältnissen eingeschränkt fühlen und nicht mehr sehen können, wer sie vertritt, profitieren davon die Rechten. Das ist auch eine Lehre aus der Weimarer Republik.
Daran schließt sich immer wieder die Frage an: Warum profitiert davon nicht die Linke?
Da gibt es viele Gründe. Aber ein ganz entscheidender Grund ist sicher der „progressive Neoliberalismus", das heißt: Die linken Parteien in aller Welt haben kulturell-soziale Themen in den Vordergrund gerückt, die Vertretung von Minderheitengruppen, beispielsweise die Rechte von Homosexuellen oder der Einsatz für Flüchtlinge oder die Genderfragen haben die klassischen Themen – Lohn- und Rentenentwicklung und soziale Leistungen – in den Hintergrund treten lassen. In Amerika sieht man das ganz deutlich, aber auch in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Staaten. Und diese Fehlentwicklung führte dazu, dass sich die Arbeiterschaft von diesen Parteien abgewendet hat.
(...)
Eine interessante Kritik an den Querdenken-Demos - nicht an den Zielen,
sondern an der Gestaltung.
Stefan Korinth: Schwarze Wahrheiten
Die Straßenproteste gegen die politischen Corona-Maßnahmen verharren in alten Mustern, die die etablierten Akteure nicht überraschen. Für Politik, Polizei und Medien ist es dadurch ein Leichtes, die Querdenker-Demonstrationen in ihren Abläufen zu behindern und in ihrer Außendarstellung zu verzerren. Engagiert und friedlich müssen die Proteste bleiben, aber ansonsten muss sich einiges ändern, um die Öffentlichkeit wirksam wachzurütteln. Als äußerst effizient könnte sich hierzu das Mittel der „schwarzen Wahrheiten“ erweisen. Ein Debattenbeitrag.
Die Erzählung „Der Hase und der Igel“ dreht sich um ein ungleiches Duell. Der schnelle Hase tritt in einem Wettlauf auf dem Acker gegen den langsamen Igel an. Doch gegen alle realen Fähigkeiten und Machtverhältnisse gewinnt der Igel. Warum? Weil er nicht nach den Regeln des Hasen spielt, weil er kreativ ist, ihn überrascht und austrickst, ohne dass der Hase das überhaupt merkt. (...)
In den vergangenen Monaten ist deutlich geworden, dass diese Mächte entgegen aller demokratietheoretischen Annahmen nahezu vereint agieren. In der Fabel wären sie alle zusammen der kräftige, schnelle Hase. Und auch wenn der Igel den Hasen gar nicht zum Gegner haben, sondern mit ihm kooperieren möchte, ist das dem Hasen völlig egal. Die herrschenden Gewalten wollen nicht sachlich debattieren, sie wollen sich nicht überzeugen lassen, sie wollen ihre Gegner einfach nur besiegen und sind dazu – anders als der Hase in der Fabel – sogar bereit, die Regeln bis zum Zerreißen zu dehnen.
Seit Monaten schon versuchen die Kritiker sich gegen diesen Machtblock zu behaupten. Sie agieren dabei allerdings so, als versuchte der krummbeinige Igel den Hasen fair und sportlich im Wettlauf zu besiegen. Doch so sehr sich der Igel auch anstrengt, er hat keine Chance. Selbst wenn er dem Hasen nahekommen könnte, würde dieser die Regeln so ändern, dass er trotzdem gewinnt – einfach weil er die Macht dazu hat.
Nun lassen sich Spielfeld und Regeln (wie behördliche Vorgaben oder die Gebote der politisch-medialen Aufmerksamkeitsökonomie) durch die Demonstranten kaum bis gar nicht ändern. Doch das ist auch nicht nötig. Die Querdenker sollen sich auch weiterhin an alle geschriebenen Regeln halten. Aber eben nicht mehr an die ungeschriebenen Regeln. Es gibt eine allgemeine Auffassung – einen „Common Sense“ – darüber, wie Straßenprotest auszusehen und abzulaufen hat. An diese ungeschriebenen Regeln sind die Querdenker aber nicht gebunden.
Es muss sich etwas ändern, sonst werden die Querdenker genauso zersetzt wie frühere Protestbewegungen. Die gute Nachricht: Mit Kreativität, taktischer Analyse und Schlauheit kann sich der Igel auch im bestehenden System gegen den Hasen durchsetzen: Er muss eigentlich wieder nur dessen Position besetzen, bevor der Hase dort sein kann.
Wie das gehen könnte, erfährt man bei Multipolar.
Uli Gellermann: Freiheit ist links. Links hat das vergessen
Es war vorrangig diese scheinbar freiwillige Selbstkontrolle der Medien, ihr Mangel an alternativer Meinung und an Kritikbereitschaft, die zu einem wesentlichen Auslöser für eine neue Bewegung wurde, die von den kontrollierten Medien fast einstimmig als „rechts“, zumindest als „rechtsoffen“ behauptet wird. Die Bewegung selbst ist gegenüber der Links-Rechts-Einordnung eher gleichgültig: Viele Aktivisten halten das klassische Links-Rechts-Schema für überholt. Typisch für diese Haltung ist Michael Ballweg, der Stuttgarter Macher der „Querdenker“: Er wehrt sich gegen das, was er als „Schubladendenken“ bezeichnet. Er, wie viele andere Quer-Aktivisten, begreift sich als Verteidiger des Grundgesetzes, insbesondere dessen Freiheitsrechten.
Die Oppositions-Rolle übernahmen linke Parteien
Bereits mit den Forderungen der französischen Revolution wurde die Liberté, die Freiheit, links verortet. Und sie war neben der Égalité, der sozialen Gleichheit, über Jahrzehnte ein wesentliches Merkmal linker Organisationen. Unter Freiheit wurde im parlamentarischen System immer auch die „freie“, nicht reglementierte Presse verstanden und unter dem Begriff „Meinungsfreiheit“ eingeordnet. Zur demokratischen Freiheit gehörte unbedingt die parlamentarische Opposition. Sie schien Anhängern des Parlamentarismus als Korrektiv von Fehlentscheidungen, als Kontrollinstrument, das, stellvertretend für die Wähler, der Herrschaftsausübung Zügel anlegen konnte und sollte. Die Oppositions-Rolle übernahmen im Deutschland der letzten Jahre primär Parteien, die links genannt wurden oder die sich selbst als links einordneten.
Die Opposition verschob sich selbst ins Regierungslager
Es waren die linken Sozialdemokraten, die sich bis zu ihrer Agenda 2010 als Freunde der sozialen Gleichheit profilierten. Es waren die linken GRÜNEN, die bis zum NATO-Überfall auf Jugoslawien als Antikriegspartei galten. Und es war die linke LINKE, die bis jüngst als genuine Oppositionspartei galt. Spätestens mit den Corona-Maßnamen der Regierung stellte sich auch die Linkspartei an die Seite der Regierung. Mit einer lange andauernden Großen Koalition und dem zähen Wunsch der LINKEN nach einer Regierungsbeteiligung, zumindest auf Länderebene, verschob sich die Opposition selbst ins Regierungslager.
(...)
Die Freiheitsbewegung spricht medizinisch
Während frühere alternative Bewegungen häufig im Soziologen-Jargon sprachen, spricht die neue Freiheitsbewegung medizinisch: Infektionszahlen und Mortatiltätsraten gehen die Anhängern der Grundrechte ziemlich flüssig über die Lippen. Das haben sie von ihren Gegnern, den Virusgläubigen gelernt. Deren politische Spitze wird von jenem Einheitsblock rund um Frau Merkel und Herrn Spahn gebildet, der das billige Infektionssschutzgesetz über das wertvolle Grundgesetzgesetz gestellt hat. Das ist einer der Gründe aus denen in der Bewegung prozentual deutlich mehr Anwälte vertreten sind als in der Gesamtbevölkerung. – Während über die neue Bewegung gern verbreitet wird, sie sei eher düster, verschwörungstheoretisch und gegen die Gesetzlichkeit gerichtet, argumentiert sie gern mit eben jenen Artikeln des Grundgesetzes, die von der Freiheit der Bürger handeln.
Ballweg und Jebsen bewegen sich an den historisch Grundlinien der Linken
Anders als die ähnlich antiautoritäre Bewegung der „68er“ schreibt die neue Bewegung weniger: Keine Flugblätter, keine Theorie-Reihen in den einschlägigen Verlagen. Man äußert sich über Video, man spricht. Von einem ihrer Sprecher, dem Unternehmer Michael Ballweg, kursieren jede Menge Videos im Netz. Ballweg will nicht rechts oder links sein, er kommt eher moralisch daher, er möchte schließlich nicht in einer unfreien Welt leben, sagt er ohne jedes Pathos. Wo Film und Video eine solch tragende Rolle spielen, kann Ken Jebsen nicht weit sein. Seine Internet-Plattform ist die mit den meisten Klicks im Netz, und schon aus Gründen der Medienkonkurrenz musste er als Dämon aufgebaut werden: Wer mit ihm kooperiert, gilt den wohlanständigen Leuten als gefährlicher Verschwörungstheoretiker. Jebsen operiert, auch um sich von der herrschende Parteienlandschaft abzusetzen, mit dem Slogan „Meine Zielgruppe ist der Mensch“. Aber längst ist ihm klar, das es solche und solche Menschen gibt: Den Milliardär Gates zum Beispiel brandmarkt er als Profiteur der Pharma-Industrie und flugs kommt neben der Forderung nach Freiheit jene auf, das man nicht an Krankheit verdienen dürfe. Diese Forderung findet sich in allen Demonstrationen dieser Tage wieder, eine Ahnung von Égalité, von Klassen und Klassenbewusstsein weht durch die Reihen. - Ballweg und Jebsen würden es bestreiten, aber sie bewegen sich an den historisch belegten Grundlinien der Linken.
Mit Marx und Engels lässt sich die Demokratie verteidigen
Wie tief der Freiheitsgedanke in linker Geschichte wurzelt, kann man im Kommunistischen Manifest von 1848, dem Jahr der deutschen bürgerlichen Revolution, nachlesen: „ An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Ausgerechnet die Kommunisten, die gern in den Verdacht der Perma-Kollektivierung gebracht werden, forderten in ihrem Gründungsdokument die Freiheit des Einzelnen als Idealzustand für die neue Gesellschaft. Mit Marx und Engels lässt sich die Demokratie kämpferisch verteidigen. Auch wenn das bei vielen deutschen Linken in Vergessenheit geraten ist.
Gellermann als Antwort auf einen Kommentar zum Artikel:
„Wer Freiheit ohne Inhalte vertritt, kann natürlich rechts sein. Erst wenn die Freiheit definiert ist – Freiheit von Ausbeutung und Krieg zum Beispiel – ist sie klassisch links.“
Peter Vonnahme: Nawalny, Nowitschok und Nord Stream 2
Das Geschehen rund um Nawalny, Nowitschok und Nord Stream 2 gleicht einem Verwirrspiel. Nicht Aufklärung ist das Ziel, sondern Vorverurteilung eines „Systemgegners“. Der Umgang mit diesem Komplex offenbart eine beklemmende Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit deutscher Politik. Dieser Befund gilt nicht nur für die Regierungskoalition, sondern auch für einen Großteil der parlamentarischen Opposition.
(...)
Vernünftiger Umgang mit Russland
Es ist an der Zeit, zu einem angemessenen Umgang mit Russland zurückzufinden. Das Zerrbild, das heutige Russland sei primär ein friedloser, unglaubwürdiger und inhumaner Nachfolgestaat der Sowjetunion, muss überwunden werden. Es ist dies ein Stereotyp, der durch die Geschichte der letzten Jahre nicht gedeckt wird. Es gibt Staaten, die den Frieden auf der Welt weitaus mehr gestört haben als Russland.
Insbesondere für Deutschland ist Zurückhaltung geboten. Zum einen steht es Deutschland aus seiner historischen Verantwortung nicht zu, sich gegenüber Russland oberlehrerhaft und überheblich zu gebärden. Zum anderen sollte das Wissen darüber, dass Mitglieder des eigenen Bündnissystems mittels kriegsvorbereitender Lügen – wie etwa der „Brutkastenlüge“ (1991), des sog. „Hufeisenplans“ (1999) und der „Yellowcake-Lüge“ (2003) – die Welt mehrfach an den Rand des Abgrunds geführt haben, zu einem besonnenen Umgang mit Russland mahnen. Voreilige Verdächtigungen der Machart Röttgen, Maas und Baerbock dienen diesem Ziel nicht.
Sanktionspolitik und Nord Stream 2
Es war eine voraussehbare Kettenreaktion: Kaum war bekannt, dass Nawalny vergiftet worden ist, wurde gemutmaßt, dass das mittels Nowitschok geschehen ist. Das wiederum ließ keine Zweifel offen, dass dann als Täter nur Russland in Betracht kommt. Und wenn dem so ist, dann muss darauf mit Sanktionen geantwortet werden. Was böte sich hierfür mehr an als ein Weiterbauverbot für die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2. Schließlich handelt es sich dabei um ein russisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt mit dem Ziel, böses Russengas gegen gutes deutsches Geld nach Deutschland zu pumpen. Da Putin auf dieses Geld angewiesen ist, drängte es sich geradezu auf, ihn mit Geldentzug in die Knie zu zwingen. Strafe muss schließlich sein, auch wenn ein strafbares Verhalten noch gar nicht feststeht.
Dass dem Gasgeschäft ein rechtsgültiger Vertrag zugrunde liegt und in unserem Kulturkreis der Grundsatz pacta sunt servanda gilt, wird ebenso großzügig übergangen wie der Umstand, dass das Pipelineprojekt baulich zu 90 Prozent fertiggestellt ist und dass die beteiligten deutschen Firmen auf den Lückenschluss drängen. Doch die Marschrichtung bestimmt in diesem Fall nicht das Recht, auch nicht die Wirtschaft, sondern die Politik. Immerhin hat die Kanzlerin jüngst öffentlich erwogen, das Projekt aufzugeben. Servil sprang ihr der Kandidat Norbert Röttgen zur Seite, indem er verlautete, das sei die einzige Sprache, die Putin verstehe. Außenminister Maas meinte dasselbe, nuschelte aber seinem Amt entsprechend im Tonfall etwas verbindlicher, er hoffe nicht, dass die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu Nord Stream 2 zu ändern.
Bedrückend ist, niemand war so ehrlich, den wirklichen Grund für den Gesinnungswandel zu nennen. Die Trump-Administration und der US-Kongress wollen Nord Stream 2 verhindern. Außenminister Pompeo hat kürzlich erklärt, die USA würden “alles tun”, um die Fortführung des Projektes doch noch zu stoppen. Washington macht auch kein Geheimnis aus seinem Wunsch, das eigene teurere und umweltschädlichere Fracking-Gas nach Europa zu liefern. Die deutsche Regierung befindet sich in einem Dilemma: Um dem peinlichen Eingeständnis zu entgehen, dass man sich Trumps Erpressung beugen muss, nimmt man die Vergiftung Nawalnys zum Anlass, Russland der Tat zu bezichtigen und begleitend dazu unverfroren auf Moral und Empörung zu setzen.
Wohlgemerkt, es ist dieselbe Regierung, die zulässt, dass seit mindestens 2011 Drohnenmorde von deutschem Boden aus durchgeführt werden. Es ist dieselbe Regierung, die dem US-amerikanischen Whistleblower Edward Snowden und seinem (schwer erkrankten) Kollegen Julian Assange jegliche diplomatische Hilfe verweigert. Es ist auch dieselbe Regierung, die nach der brutalen Ermordung des saudischen Journalisten und Regierungskritikers Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul von Sanktionen gegen Saudi-Arabien absah, obgleich der Staat mittlerweile die Ermordung sogar zugegeben hat.
So gesehen ist der Giftanschlag auf Nawalny der Anfang eines von Heuchelei geprägten Trauerspiels.
Schön wäre es, wenn diejenigen Politiker und Journalisten, die sonst so beflissen über Recht und Moral schwadronieren, bis auf Weiteres beschämt schweigen würden.
Dem unglückseligen Alexej Nawalny, der für ein Schmierenspiel missbraucht worden ist, kann man nur baldige und vollständige Genesung wünschen.
Wer noch immer glaubt, die Tagesthemen liefere seriöse Nachrichten und keine Propaganda, schaue sich dieses Stück von Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer an, lade es herunter und speichere es im Archiv: Detailliert zeigen die Autoren, wie plump und geistlos das Fernsehen die Zuschauer manipuliert.
Bräutigam & Klinkhammer: Nawalny-Nachrichten: Merkel erwirkt Denkverbot
Es ist unglaublich, was die deutsche Politelite und der ihr hörige Medien-Mainstream der Öffentlichkeit mit der Nawalny-Nummer zugemutet haben. Selbst nach einer Woche lebt die Story immer noch: Der böse Wladimir Putin und seine Geheimdienstkiller haben den „führenden russischen Oppositionspolitiker“ Alexei Nawalny im Gulag-Sibirien erst mal mit Nowitschok abgefüllt. Dann wollten sie das vertuschen und haben so getan, als wollten sie sein Leben retten. Und dann haben sie ihn samt Familie und Propagandamannschaft nach Deutschland ausfliegen lassen, damit dort die gemeine Vergiftung von der Bundeswehr nachgewiesen werden kann. (2, 3) Schmerz, lass nach!
Solchen Schmarren servierte ARD-Tagesthemen-Moderatorin Caren Miosga am 2. September in vollem Ernst. (4) Liebhabern der Realsatire sei dieser Tiefpunkt des bundesdeutschen Nachrichtenjournalismus´ zur Betrachtung anempfohlen; die komprimierte Ansammlung von Verstößen gegen zentrale Bestimmungen des Rundfunkstaatsvertrags (5) ist in der ARD-Mediathek abrufbar. (…)
Es geht der ARD-aktuell nicht um unparteiische, sachgerechte, umfassende Information über Russland und diesbezügliche geopolitische Zusammenhänge; bitte machen Sie sich selbst ein Bild anhand der von uns hier betrachteten Sendung.
Wir jedenfalls konstatieren: Die Nachrichten-Zentralredaktion des Ersten Deutschen Fernsehens vermittelt bei vollem Bewusstsein der Problematik schiere antirussische Propaganda. Sie erzeugt gezielt Ablehnung und Hass, sie malt Feindbilder von einem Land, das schon einmal Opfer deutscher Machtfantasien war und mit 26 Millionen Toten für die Befreiung von unserer Obsession bezahlte. Diese Machtfantasien werden heute nur anders serviert, sind aber auf identische Ziele ausgerichtet. Neu, beinahe humoristisch, ist dabei der Dilettantismus, mit dem unsere hochdotierten Qualitätsjournalisten vorgehen. (…)
Aischylos, griechischer Schöpfer der klassischen Tragödie, erkannte schon vor 2 500 Jahren: „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer“. Nach tausendfacher Erfahrung weiß man heute, dass die von Politikern vorgebrachte Lüge erst nach ihrer Verbreitung durch Journalisten wirklich kriegswirksam wird. Der Bombenkrieg gegen Afghanistan begann 2001 mit der Lüge, dort säßen die Verantwortlichen für den Anschlag auf die Zwillingstürme in New York. Die Mär, Saddam Hussein besitze heimliche Massenvernichtungswaffen, diente anno 2003 zur Begründung des Dritten Irakkriegs. Die Kriege gegen Libyen 2010 und gegen Syrien 2011 wurden mit Lügen über die angeblich „mörderischen Regimes“ der Präsidenten Muammar Gaddafi und Baschir Assad losgetreten. Haben unsere Qualitätsjournalisten jemals sichtbare Erkenntnisse aus der üblen Historie gewonnen und Konsequenzen aus dem bösartigen Geschwätz der Politiker gezogen?
Nicht die Bohne. Tendenzfreie, professionell recherchierte und friedensförderliche Nachrichten sind bei Tagesschau und Tagesthemen so selten wie dicke Briefträger bei der Post.
Wir erlauben uns ein Postskriptum
Einen Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel, Außenminister Maas, Kriegsministerin Kramp-Karrenbauer und die gesamte Stahlhelm-Fraktion von CDU und Grünen im Deutschen Bundestag:
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Damen und Herren Volksvertreter mit und ohne Ministeramt,
Am 3. Januar dieses Jahres befahl US-Präsident Donald Trump, den iranischen General Kassem Soleimani zu ermorden. Er ließ sich live unterrichten, als eine Drohne MQ-9-Reaper auf dem Flughafen Bagdad die Wagenkolonne des Iraners mit Raketen beschoss. Außer Soleimani wurden zehn weitere Menschen zerfetzt, darunter ein Flughafenarbeiter. Die Aktion wurde über die US-Relaisstation in Ramstein/Pfalz gesteuert und Deutschland zum Mordkomplizen gemacht. Haben Sie von Trump und der US-Administration eine Erklärung verlangt? Haben Sie den deutschen Generalbundesanwalt angewiesen, ein Ermittlungsverfahren gegen den Massenmörder im Weißen Haus in Washington einzuleiten? Nein?
Quelle: NachDenkSeiten
Paul Schreyer: Gibt es aktuell eine Coronavirus-Pandemie in Deutschland?
(...)
Worum geht es tatsächlich?
Dass die Regierungen ihre Bürger über die Gefährlichkeit der aktuellen Situation anlügen, ist offenkundig. Doch warum geschieht das? Welche politischen Motive gibt es für die sachlich unbegründete Aufrechterhaltung des länderübergreifenden „Gesundheitsnotstands“?
Die grundlegende Zielrichtung der Corona-Maßnahmen scheint eindeutig: Es ist eine Zentralisierung von Machtausübung zu beobachten, eine Stärkung der Exekutive, eine engere Verzahnung mit Konzerninteressen sowie ein bis in privateste Gesundheitsdaten hineinreichender Ausbau der Überwachung und Durchleuchtung der Bürger. Die Grundrichtung der Entwicklung ist antidemokratisch. Dient die Pandemie also nur als Türöffner?
Tatsächlich werden entsprechende Gedanken in höher gestellten Kreisen schon seit längerem diskutiert. So hatte etwa Jacques Attali, ein Vordenker der französischen Eliten, langjähriger Berater des französischen Präsidenten François Mitterand und Entdecker von Emmanuel Macron, im Mai 2009, zu Beginn der medialen Aufregung um die Schweinegrippe, öffentlich philosophiert:
„Die Geschichte lehrt uns, dass sich die Menschheit nur dann signifikant weiterentwickelt, wenn sie wirklich Angst hat (…) Die beginnende Pandemie könnte eine dieser strukturierenden Ängste auslösen. (…) Eine größere Pandemie wird dann [wenn sie schwerwiegend ist; P.S.], besser als jeder humanitäre oder ökologische Diskurs, das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Altruismus wecken (…)Das politische Potenzial von Pandemien machte auch eine im Frühjahr 2010 veröffentlichte Studie der Rockefeller Foundation deutlich. Unter dem Schock der weltweiten Finanzkrise wurden darin vier denkbare globale Zukunftsszenarien vorgestellt, von denen eines, das mit dem Stichwort „Lock Step“ („Gleichschritt“) bezeichnet war, die Vision einer autoritären Welt voller staatlicher Überwachung und Zwang schilderte, die sich aus Sicht der Autoren nach einer großen Influenza-Pandemie und der daraus folgenden Wirtschaftskrise rund um den Globus durchsetzen könnte.
Und selbst wenn diese Krise, wie wir natürlich hoffen müssen, nicht sehr ernst ist, dürfen wir nicht vergessen, wie wir es bei der Wirtschaftskrise getan haben, aus ihr zu lernen, damit vor der nächsten, unvermeidlichen Krise Präventions- und Kontrollmechanismen sowie logistische Prozesse für die gerechte Verteilung von Medikamenten und Impfstoffen eingerichtet werden können. Zu diesem Zweck müssen wir eine globale Politik, eine globale Lagerung und damit eine globale Besteuerung einführen. Dann werden wir viel schneller, als es allein aus wirtschaftlichen Gründen möglich gewesen wäre, die Grundlagen für eine echte Weltregierung schaffen können.“
Das Modell gleicht der Gegenwart von 2020 in erstaunlich vielen Punkten. Ausdrücklich wurde darin beschrieben, wie China im Verlauf der fiktiven Pandemie mit seinen besonders autoritären Schutzmaßnahmen zum Vorbild in der Welt würde. Auch eine Maskenpflicht in vielen Ländern erwähnten die Autoren und merkten an: „Selbst nachdem die Pandemie abgeklungen war, blieb die autoritärere Kontrolle und Überwachung der Bürger bestehen und verstärkte sich sogar noch.“
Mit den vorgestellten Szenarien wollten die Herausgeber nach eigener Aussage „eine neue strategische Debatte unter Entscheidungsträgern auslösen“. Für den Handelsblatt-Journalisten Norbert Häring zeigt das Papier, „dass wichtige Akteure seit mindestens zehn Jahren über die politischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten und Herausforderungen nachdenken, die durch Angst auslösende Pandemien entstehen“.
„Wir werden viel mehr Überwachung akzeptieren“
Es scheint, als ob ein ähnliches Programm zur Zeit international umgesetzt wird. Der Chefplaner des „Lock Step“-Szenarios von 2010 lässt aktuell verlauten:
„Wir werden nach und nach sehr viel mehr Überwachung akzeptieren. Und am Ende wird es uns nicht stören, weil es – für die meisten Menschen in den meisten Situationen – mehr nützt als schadet.“Das passt zu Beobachtungen aus China, die ZDF-Korrespondent Ulf Röller im April bei Markus Lanz berichtete. Auf die Frage von Lanz, was die „Rückkehr zur Normalität“ dort bedeute, schilderte er:
„Was mir am meisten Angst gemacht hat, und das ist vielleicht auch ein Thema, was die deutschen Zuschauer sehr interessiert, ist, mit welcher Lichtgeschwindigkeit der Überwachungsstaat sichtbar geworden ist. Für jede Bewegung, die man machen will, muss man eine App herunterladen. (…) Man nutzt die Gesundheitsangst der Leute, um diese massive Überwachung stattfinden zu lassen. (…) Die meisten Chinesen, mit denen wir gesprochen haben, finden das super. Die Angst, die sie vor einer neuen Infektionswelle haben, ist so groß, die wird auch staatlich gelenkt, dass sie da keine Einschränkung ihrer Freiheit sehen, sondern etwas Positives, das sie schützt.“Erst kürzlich erklärte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, die Corona-Krise sei „eine große Chance, weil der Widerstand gegen Veränderungen in der Krise geringer“ werde. „Wir können die Wirtschafts- und Finanzunion, die wir politisch bisher nicht zustande gebracht haben, jetzt hinbekommen“, so Schäuble.
Wenn Regierungen und Eliten in diesem Zusammenhang kein Interesse an einer Aufhebung des „Gesundheitsnotstands“ haben, so leuchtet das unmittelbar ein.