Lesefrüchte
Februar 2021
Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind und zitieren Auszüge. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.
Lesefrüchte im Januar 2021
Chris Hedges: Cancel Culture – da, wo der Liberalismus stirbt
Marcus Klöckner: Ein Verstoß gegen journalistische Prinzipien:
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Thomas Röper: Geopolitischer Albtraum der USA: Schließen Moskau
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Wolfgang Bauer: Die letzte Wiese
Gerd Ewen Ungar: Das zerbrochene Narrativ – Nawalny und die deutschen Medien
Ralf Arnold: Die Mainstream-Blase
Chris Hedges: Cancel Culture – da, wo der Liberalismus stirbt
Sie sind die neuen Jakobiner: Eliten und ihre journalistischen Höflinge, die ihre "moralische Überlegenheit" herausstellen, indem sie diejenigen verdammen und zum Schweigen bringen, die sich nicht der "politisch korrekten Sprache" anpassen.
Der Baptistenprediger Will Davis Campbell wurde 1956 wegen seiner Aufrufe zur Integration der Schwarzen aus seiner Position als Leiter des religiösen Lebens an der Universität von Mississippi gedrängt. Er begleitete 1957 schwarze Kinder durch einen feindseligen Mob, um sie nach der offiziellen Aufhebung der Rassentrennung in die Central High School in Little Rock einzuschulen. Er war der einzige Weiße, der eingeladen wurde, Mitgründer der Martin Luther King Jr.'s Southern Christian Leadership Conference zu sein. Er half bei der Öffnung von Nashvilles Lunchlokalen für Schwarze und organisierte die Freedom Rides gegen die Segregation im Süden der USA.
Aber Campbell war auch, trotz einer Reihe von Morddrohungen, die er von weißen Befürwortern der Rassentrennung erhielt, der inoffizielle Seelsorger der örtlichen Sektion des Ku-Klux-Klans. Er prangerte den Rassismus, den Terror und die Gewalt des Klans an und bekämpfte ihn öffentlich. Er marschierte mit schwarzen Bürgerrechtlern in seiner Heimat Mississippi, aber er weigerte sich standhaft, weiße Rassisten aus seinem Leben zu "canceln". Er weigerte sich, sie als "weniger wertvolle Menschen" zu betrachten und zu dämonisieren. Er bestand darauf, dass ihr Rassismus zwar böse sei, aber nicht so heimtückisch wie das kapitalistische System, das das wirtschaftliche Elend und die Instabilität aufrechterhalte, und Weiße in die Reihen gewalttätiger, rassistischer Organisationen treibe.
"Während der Bürgerrechtsbewegung, wenn wir Strategien entwickelten, sagte gewöhnlich jemand: 'Ruf Will Campbell an. Fragt bei Will nach'", schrieb der demokratische Abgeordnete John Lewis in der Einleitung zur Neuauflage von Campbells Memoiren "Brother to a Dragonfly" ("Bruder einer Libelle"), eines der wichtigsten Bücher, die ich als Seminarist gelesen habe. "Will wusste, dass die Tragödie der Südstaatengeschichte sowohl auf unsere Gegner als auch auf unsere Verbündeten gefallen war ... auf George Wallace und Bull Connor ebenso wie auf Rosa Parks und Fred Shuttlesworth. Er sah, dass sie sowohl den Ku-Klux-Klan als auch das Student Nonviolent Coordinating Committee [Organisationen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, Anm. d. Red.] hervorgebracht hatte. Diese Einsicht führte Will dazu, Heilung und Gleichberechtigung, die durch Mut, Liebe und Glauben angestrebt werden, als den Weg zur geistigen Befreiung für alle zu sehen."
Jimmy Carter schrieb über Campbell, dass er "die Mauern niederriss, die weiße und schwarze Südstaatler trennten". Und weil der Black-Panther-Organisator Fred Hampton dasselbe in Chicago tat, hat das FBI – das heute zusammen mit der CIA der faktische Verbündete der liberalen Eliten in ihrem Krieg gegen Trump und dessen Anhänger ist – ihn 1969 ermordet.
Als die Stadt, in der Campbell lebte, beschloss, dass der Klan keinen Festwagen bei der Parade zum 4. Juli haben sollte, hatte Campbell nichts dagegen, solange die Gas- und Elektrizitätsgesellschaft ebenfalls ausgeschlossen wurde. Es waren in seinen Augen nicht nur weiße Rassisten, die den Unschuldigen und Schwachen Leid zufügten, sondern auch Institutionen, die die "Heiligkeit des Profits" über das menschliche Leben stellen.
"Die Leute können ihre Gas- und Stromrechnungen nicht bezahlen, die Heizung wird abgestellt und sie erfrieren und sterben manchmal, besonders wenn sie älter sind", sagte er. "Auch das ist ein Akt des Terrorismus."
"Man konnte sie sehen und mit ihnen umgehen, und wenn sie das Gesetz brachen, konnte man sie bestrafen", sagte er über den Klan. "Aber die 'größere Kultur', die durch und durch rassistisch war und immer noch ist, ist viel schwieriger zu handhaben und hat einen unheimlicheren Einfluss."
Wer wirklich unser perfidester Feind ist
Campbell hätte uns heute daran erinnert, dass die Dämonisierung der Trump-Anhänger, die die Hauptstadt gestürmt haben, ein schrecklicher Fehler ist. Er hätte uns daran erinnert, dass Rassenungerechtigkeit nur mit wirtschaftlicher Gerechtigkeit gelöst werden kann. Er hätte uns dazu aufgerufen, denen die Hand zu reichen, die nicht so denken wie wir, nicht so sprechen wie wir, die von der "vornehmen Gesellschaft" lächerlich gemacht werden, die aber unter der gleichen wirtschaftlichen Marginalisierung leiden. Er wusste, dass die Ungleichheit der Verhältnisse, der Verlust von Status und Hoffnung für die Zukunft, gepaart mit anhaltender sozialer Verwerfung, genau die vergiftete Solidarität erzeugt, die Gruppen wie den Klan oder die Proud Boys erst entstehen lässt. Wir können keine Wunden heilen, die wir uns weigern, anzuerkennen.
Die Washington Postanalysierte öffentlich zugängliche Informationen von 125 Angeklagten, die an der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar teilgenommen haben sollen, und fand heraus, dass "fast 60 Prozent der Angeklagten Anzeichen früherer Geldsorgen aufwiesen, einschließlich Konkursen, Räumungsankündigungen oder Zwangsvollstreckungen, uneinbringlichen Schulden oder unbezahlten Steuern aus den letzten zwei Jahrzehnten."
"Die Konkursrate dieser Gruppe – 18 Prozent – war fast doppelt so hoch wie die der amerikanischen Öffentlichkeit [im Durchschnitt, Anm. d. Red.]", so die Washington Post. "Ein Viertel von ihnen wurde verklagt, weil sie einem Gläubiger Geld schuldete. Und jeder Fünfte von ihnen stand irgendwann vor dem Verlust seines Hauses, wie aus Gerichtsunterlagen hervorgeht."
"Ein Mann aus Kalifornien hatte eine Woche zuvor, bevor er sich mutmaßlich der Erstürmung anschloss, Konkurs angemeldet, wie aus öffentlichen Unterlagen hervorgeht", berichtet die Zeitung weiter. "Die Firma eines Mannes aus Texas, der ebenfalls angeklagt wurde, war einen Monat zuvor mit einem staatlichen Steuerpfandrecht von fast 2.000 Dollar belegt worden. Mehrere junge Leute, die ebenfalls angeklagt wurden, stammten aus Familien, die eine Vorgeschichte in Sachen finanzielle Nöte haben."
Wir müssen die Tragödie dieser Leben anerkennen und gleichzeitig Rassismus, Hass und die Lust an Gewalt verurteilen. Wir müssen begreifen, dass unser perfidester Feind nicht jemand ist, der politisch unkorrekt oder gar rassistisch ist, sondern die Konzerne und ein gescheitertes politisches und juristisches System, das Menschen wie auch den Planeten gefühllos auf dem Altar des Profits opfert.
(Hier weiterlesen)
Marcus Klöckner: Ein Verstoß gegen journalistische Prinzipien: Wie die NNZ über Daniele Ganser schreibt
Nur anonyme Quellen, das Auslassen wichtiger Informationen, fehlende Objektivität: Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) hat ihren Lesern einiges zugemutet. Unter dem Titel „Gansers Jünger“ setzt sich das ehrwürdige Schweizer Blatt mit dem Historiker Daniele Ganser und seinem Publikum auseinander. Reichlich Raunen und viele Vorwürfe, dafür umso weniger Substanz – so lässt sich der Artikel zusammenfassen. Das von Ruth Fulterer verfasste Stück will eine „Reise durch das Universum“ der Ganser-„Fans“ sein. Es zeigt sich: Die Reise wurde zwar angetreten, intellektuell durchdrungen und vollendet wurde sie nicht. Eine Analyse.
Der Artikel ist sehr lang, aber empfehlenswert. Hier begnügen wir uns mit dem Schluss des Artikels, der einen Blick auf die Denkweise der „Vertreter der Orthodoxie“ wirft:
(NZZ:...)
Wären Verschwörungstheoretiker Drogen, wäre Ganser das Marihuana. In jungen Jahren probieren es viele aus, die meisten hören wieder auf. Ganser-Fans, die nachher Geschichte studieren, werden ihn anzweifeln, jene, die wie mein Arzt-Freund viele andere Interessen haben, lesen ihn und legen das Thema auch wieder weg.Manche aber bleiben hängen. Für sie ist der seriöse Ganser mit seinen «kritischen Fragen» der Einlassschein für eine Welt, in der sicher geglaubte Wahrheiten verschwinden und Prediger erklären, was «die da oben» eigentlich vorhaben. Zurück bleibt das diffuse Gefühl, dass man dem System nicht trauen kann.“
Dieser längere Abschnitt sei nur knapp analysiert. Schlag auf Schlag führt Fulterer Aussagen und Handlungen von Ganser an, die im Gesamtkontext des Artikels allesamt negativ zu deuten sind. Ganser beklagt „Internetzensur“, weil aus Sicht der Mainstream-Medien ein „fragwürdiger“ Kanal gelöscht wird, Ganser „spielt Impfskeptikern in die Hände“, man kann ihn mit einem „Prediger“ vergleichen und mit einer Droge (Marihuana) gleichsetzen.
Zum Schluss erfolgt ein Fazit zu Gansers Publikum, das wie erwartet ausfällt. Die Autorin inszeniert sich selbst als eine Person, die in der Lage ist, die „wahre“ Realität zu kennen – im Gegensatz zu Gansers „Jüngern“, denen Ganser den „Einlassschein“ reicht für eine Welt, in der sicher geglaubte Wahrheiten verschwinden und so das Gefühl entstehe, man könne dem System nicht trauen.
Alles ist, wie es scheint
Die beiden Schlusssätze lassen erahnen, warum manche Journalisten so verbissen gegen Daniele Ganser und Co. anschreiben und gegen das, was sie als "Verschwörungstheorien" bezeichnen. Viele dieser Journalisten sind als Vertreter der Orthodoxie zu verstehen. Ihnen geht es gerade darum, nicht den „Einlassschein“ abzuholen in eine Welt, in der „sicher geglaubte Wahrheiten verschwinden“. Sie wollen in jener Welt sein, in der die „sicher geglaubten Wahrheiten“ wahr und auch unangetastet bleiben. In dieser Welt ist es verpönt, „dem System“ zu misstrauen oder gar „das System“ grundsätzlich zu hinterfragen.
Es ist eine Welt, in der die Interaktionsmuster der Machteliten wie am Bohemian Grove nicht beleuchtet, die NATO auf keinen Fall geheime Armeen unterhalten hat und alles grundsätzlich immer so ist, wie es scheint. In diesem Universum "geht es uns gut". In ihm, stellt sich die Frage, was passiert, wenn der Staat einen nach Corona „in die Freiheit entlässt“, dort singt man Angela Merkel auf einer Pressekonferenz ein Ständchen zum Geburtstag und bleibt bei der Pandemie „Zoohause“. Kurz um: alles wunderbar. Wären da nur nicht „Ganser und seiner Jünger“.
Thomas Röper: Geopolitischer Albtraum der USA: Schließen Moskau und Peking noch in diesem Jahr ein Militärbündnis?
Das Moskauer Institut für internationale politische und wirtschaftliche Strategien (RusStrat) hat eine sehr interessante Analyse veröffentlicht, die besagt, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass die beiden Staaten noch in diesem Jahr ein Militärbündnis abschließen.
Russland und China sind in den letzten Jahren immer enger zusammengerückt, aber sie haben kein Militärbündnis und sind bei einigen geopolitischen Fragen unterschiedlicher Meinung. Aber der erhöhte Druck der USA auf beide Staaten könnte nun zu einem Militärbündnis und einer Einigung in den bisher umstrittenen Fragen führen.
“Worldwide Dominance” – Die geopolitischen Ziele der USA
Das wichtigste geopolitische Ziel der USA ist die Beherrschung des eurasischen Raums, also der Kontinente Europa und Asien. Das ist allgemein bekannt und wird von den Geostrategen der USA auch ganz offen gesagt: Nur so lässt sich die “Worldwide Dominance” (also die Weltherrschaft) der USA auf Dauer sichern.
Das Mittel dazu ist nicht, alle Staaten zu besetzen, das ist unmöglich. Es geht darum, in möglichst allen Staaten pro-USA-Regierungen zu haben und diejenigen, die sich dem Willen der USA widersetzen, gegeneinander aufzuhetzen – es ist das wirksame Prinzip “Teile und Herrsche” aus dem alten Rom, das seit 2000 Jahren alle Weltmächte (oder Imperien) genutzt haben.
Während die USA mit Hilfe verschiedener Organisationen, die sie dominieren, wie zum Beispiel die Nato, Europa bereits praktisch komplett beherrschen, sieht die Sache in Asien anders aus. Dort stellen sich die zwei Großmächte Russland und China, die nicht von “jenseits des Ozeans” beherrscht werden wollen, den USA in den Weg. Viele kleinere Staaten (vor allem im Persischen Golf, aber auch in Asien) stehen bereits unter dem Einfluss der USA. Wer sich den USA entgegen stellt, der bekommt, wie zum Beispiel Weißrussland oder der Iran, Sanktionen zu spüren. Oder es wird dort, wie zum Beispiel in der Ukraine, ein Regimechange durchgeführt und eine US-treue Regierung eingesetzt.
Nur Russland und China widersetzen sich diesem Druck immer noch erfolgreich und manche Länder (wieder zum Beispiel Weißrussland oder der Iran) nähern sich den beiden Großmächten an, um Schutz vor dem Druck der USA zu bekommen.
Es geht also bei all den Sanktionen und Konflikten nicht – wie westliche Medien und Politiker ihrem naiven Publikum gerne erzählen – um Menschenrechte oder Demokratie, es geht um banale, aber handfeste geopolitische Interessen. Mit ihrem verstärkten Druck könnten die USA nun aber etwas provozieren, was sie auf keinen Fall wollen: Ein echtes Bündnis zwischen Russland und China. Das würde die Position der USA massiv schwächen und weitere Länder dazu bringen, sich den beiden anzuschießen.
Und sollte es Russland als Vermittler noch gelingen, den Streit zwischen Indien und China zu schlichten, dann wäre es endgültig vorbei mit der US-Dominanz in Eurasien und damit der Weltherrschaft der USA. Eine solche Einigung zwischen Indien und China ist deshalb möglich, weil Putin zu beiden Staatschefs sehr gute Beziehungen hat und beide ihm vertrauen. Putin könnte also ein anerkannter Vermittler sein.
Das ist noch Zukunftsmusik, der erste Schritt wäre ein Bündnis zwischen Russland und China, das beide Länder eigentlich nie wollten, das aber das Ergebnis des US-Druck sein könnte – und zwar schon in diesem Jahr. Der Grund ist, dass der in diesem Jahr ablaufende Freundschaftsvertrag zwischen Russland und China erneuert werden muss. Das Moskauer Institut für internationale politische und wirtschaftliche Strategien (RusStrat) hat die Zwischentöne zwischen Russland und China analysiert und kommt zu dem Schluss, dass es schon in diesem Jahr zu einem solchen Bündnis kommen könnte, das sogar mehr wäre, als ein reines Militärbündnis, denn es würde auch wirtschaftliche Komponenten haben, um dem Wirtschaftskrieg, den die USA mit Sanktionen gegen Russland und Strafzöllen gegen China führen, entgegenzutreten.
Da das ein geopolitischer Paukenschlag wäre, habe ich die Analyse von RusStrat übersetzt.
Wolfgang Bauer: Die letzte Wiese — Am Rande eines schwäbischen Dorfes wachsen seit Jahrhunderten Blumen und Obstbäume. Jetzt sollen dort Häuser entstehen, denn Wohnraum ist knapp. Aber die Natur ist es auch. Die Geschichte eines Konflikts, wie er sich überall in Deutschland abspielt.
Die Wiese: Der Schnee ist über Nacht geschmolzen. Das Gras, das im Sommer bis zur Hüfte reicht, hoch und wild, fast wie in der Savanne Afrikas, liegt Ende Januar flach und niedergedrückt über dem Grund. Die Wiese ist vollgesogen mit Nässe, jeder Schritt auf ihr schmatzt. 75 Obstbäume stehen hier, die Hälfte wird in den nächsten Jahren sterben, sagen die Gutachter, sie seien zu alt. Das Fallobst des Sommers liegt im Gras, braune, aufgeweichte Äpfel, besprenkelt mit weißen Pilzen. Auf einem Quadratmeter Erde leben mehrere Hundert Tiere. Einer der artenreichsten Lebensräume Mitteleuropas: die Streuobstwiese.
Die Wiese schmiegt sich an den Ortsrand von Gönningen, einem Dorf im Schwäbischen. Sie ist nicht groß. 250 Meter lang, 75 Meter breit, 1,9 Hektar. Die Gemarkung »Hinter Höfen«. Im örtlichen Grundbuch verzeichnet als Flurstück 410 bis 442.
»Ein Traum«, sagt Elke Rogge mit Blick auf die Wiese. »Wenn die blüht, ist das fast wie ein Märchen.« Rogge, 55, eine Musikerin, wohnt in einem von ihr selbst renovierten Bauernhaus, das direkt an die Wiese grenzt. »Wir müssen mehr tun, um sie zu retten«, sagt sie. »Ich überlege ständig, was wir noch tun können.«
»Ich liebe den Duft und den Gesang der Vögel«, sagt Bernd Holwein, 59, von Beruf Krankenpfleger. Das Haus seiner Familie steht ebenfalls an der Obstwiese. Holweins Wangen sind so rot wie die Äpfel, die im Sommer auf den Bäumen der Wiese wachsen. Die Holweins lieben Äpfel, zur Erntezeit umgibt sie ihr säuerlicher Geruch, den sie mitnehmen, wohin immer sie gehen. »Ich habe nicht viel Hoffnung«, sagt Bernd Holwein, »sie werden sich die Wiese holen.«
»Für mich ist das ein Stück Heimat«, sagt Uwe Rist, 54, Entwicklungstechniker im Scheinwerferbau.
»Das ist für das Dorf eine Katastrophe«, sagt Birgid Löffler-Dreyer, 66, eine pensionierte Restauratorin. Ihr Bruder, der viele Jahre für die Wiese gekämpft hat, ist vor wenigen Monaten verstorben. Sie will seinen Kampf fortführen, sein Erbe, wie sie sagt.
Rogge, Holwein, Rist und Löffler-Dreyer, sie alle setzen sich in der Bürgerinitiative »Kein Neubaugebiet Hinter Höfen« für den Erhalt der Wiese ein.
Fast jeder Nachbar hat zur Wiese hin ein großes Transparent aufgehängt, befestigt an Zäunen und an Pfosten zwischen den Bäumen. »Hier kein Neubaugebiet!«, steht darauf, oder: »Lasst die Wiese leben!«
In dieser Geschichte, die das Dorf Gönningen mit seinen 3800 Einwohnern durch vier Jahreszeiten begleitet, geht es um einen Konflikt, der in Europa immer mehr Orte erfasst. Das Land verschwindet, und das fast wortwörtlich: in den Niederlanden, in Belgien, in Norditalien, in Österreich, der Schweiz, besonders aber in Deutschland.
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Ende des 19. Jahrhunderts bestand der Ort aus knapp über hundert Häusern, die meisten von ihnen eng um die Kirche gedrängt. In den Zwanzigerjahren zogen die Vermögenderen aus dem Ortskern an die Hänge. In den Fünfzigern fanden kriegsvertriebene Donauschwaben auf Gönningens Äckern billiges Bauland und ließen sich in Reihenhäusern nieder. Von da an brachte jedes Jahrzehnt ein neues Baugebiet. Immer tiefer wuchs das Dorf in die Felder des Umlands hinein. Große Häuser mit großen Gärten entstanden. Die Bungalows kamen, dann die Fertigbauhäuser. Trugen die Straßen des alten Dorfs Namen wie Kirchstraße, Grabenstraße, Im Ländle, die sich durch jahrhundertelangen Gebrauch herausgeformt hatten, taufte man die Straßen der neuen Baugebiete Narzissenweg und Krokusweg.
Das Dorf wuchs nach außen und verdorrte nach innen. Die letzte Kneipe hat vor zwei Jahren geschlossen. Die Postfiliale ist zu, das Schreibwarengeschäft verlassen, nur noch einen Lebensmittelladen gibt es, und auch um den hat die Bürgermeisterin Pahl Angst. Der Ortskern ist unbelebt, geprägt von verfallenden Fachwerkdenkmälern, durchlärmt von einer Landesstraße. Das Schulgebäude, gleich neben dem Rathaus, einst der Stolz des Ortes, steht leer und soll abgerissen werden.
Was von der Seele des Dorfes übrig ist: ein Raum mit Vitrinen im ersten Stock des Rathauses, den sie Museum nennen.
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Die Politik in Deutschland bremst den Bauboom nicht, sie heizt ihn an. Noch weit vor dem Straßenbau ist der Wohnungsbau der größte Landschaftsfresser. Die große Koalition in Berlin will Wohnraum schaffen. 1,5 Millionen neue Wohnungen in der laufenden Legislaturperiode waren das Ziel, etwas mehr als die Hälfte wurde bisher erreicht. »Eine der wichtigsten sozialen Fragen unserer Zeit«, heißt es über den Wohnungsneubau im Koalitionsvertrag von Union und SPD.
Die Mieten in den Großstädten sind in den vergangenen Jahren explodiert. 6,4 Millionen Menschen leben in Deutschland einer Studie der EU zufolge in zu kleinen Unterkünften, so viele wie seit vielen Jahren nicht mehr. Die Bundesregierung hat deshalb das Baugesetz um einen Absatz ergänzt, der es den Kommunen erleichtert, Neubaugebiete auszuweisen. Der Paragraf 13b. Der »Flächenfraßparagraf«, wie die Naturschutzverbände ihn nennen.
Auch die Wiese in Gönningen soll mithilfe des 13b zu Bauland werden. Dadurch entfallen fast alle Umweltauflagen. In Baden-Württemberg entstanden in den vergangenen Jahren 80 Prozent der Neubaugebiete, die auf Wiesen und Äckern abgesteckt wurden, auf Grundlage des 13b.
Diese Woche wird im Bundestag darüber diskutiert, ob der Paragraf für zwei weitere Jahre gelten soll, eine Mehrheit dafür scheint sicher, obwohl der 13b nicht das bewirkt hat, was die Koalition sich erhofft hatte: soziales Wohnen. Achtzig Prozent der Häuser, die mithilfe der Gesetzesneuerung gebaut werden, sind Einfamilienhäuser - Wohnraum für Besserverdienende.
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In Gönningen ist es Herbst geworden; ein langer, viel zu heißer Sommer liegt hinter den Dorfbewohnern. Für Ende September hat Bürgermeisterin Pahl zur allgemeinen öffentlichen Aussprache zur Zukunft der Wiese geladen. »Das kann leicht außer Kontrolle geraten«, sagt einer der Gönninger Gemeinderäte im Vorfeld und bittet, ihn nicht namentlich zu zitieren. Die Nervosität in beiden Lagern ist groß.
»Der Abend ist brutal wichtig für uns«, sagt Elke Rogge von der Bürgerinitiative. Einen ganzen Tag lang hat sie ihre Rede ausgearbeitet, einen Vortrag von 20 Seiten. Das Ehepaar Holwein hat einige Tage zuvor bis in den frühen Morgen am Esszimmertisch gesessen und über die Wiese und das Leben an sich diskutiert. »Wenn es anders ausgeht, als man es sich wünscht, darf man nicht daran zerbrechen«, sagt Frau Holwein mit Blick auf ihren Mann.
98 Personen kommen zur Aussprache in die Gemeindehalle, mehr lässt die Corona-Verordnung nicht zu. Pahl formuliert einleitende Worte: »Worum geht es heute? Es geht um das Baugebiet Hinter Höfen. Die einen sind dagegen, die anderen sagen, wann geht es endlich los?«
Dann redet der Referent des Reutlinger Stadtplanungsamts, ein Techniker, der nur selten von seinem Laptop aufsieht. Er spricht von einer »verträglichen Bebauung«, weil in der Planung die Gebäudegrößen von innen nach außen abnähmen. Um den Verlust an Natur auszugleichen, würden in der Umgebung Nisthilfen aufgehängt. Die Obstbäume auf der Wiese - größtenteils nicht erhaltenswert. Das Grundwasser - kein erhöhtes Risiko für Überschwemmungen. Zum ersten Mal informiert die Verwaltung die Gönninger über den Ausgang der Gutachten.
»Es ist noch nichts entschieden«, beschwört der Leiter des Reutlinger Stadtplanungsamts den Saal, als langsam klar wird, dass die Mehrheit der Anwesenden für den Erhalt der Wiese ist. Ein Bürger nach dem anderen tritt vor das Saalmikrofon.
»Dieses Neubaugebiet ist für alle von uns ein Schlag ins Gesicht.« »Das ist ein Fremdkörper.«
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Gerd Ewen Ungar: Das zerbrochene Narrativ – Nawalny und die deutschen Medien
Die deutschen Medien berichten einseitig. Europaweit gab es in der vergangenen Woche Proteste. Berichtet wurde vor allem über jene in Russland. Dabei wird sichtbar: Der deutsche Journalismus hat seine aufklärende Funktion aufgegeben und stützt Verschwörungstheorien.
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Der Artikel zeigt wie unterschiedlich die deutschen Medien über Demonstrationen berichtet, die einerseits in Russland stattlinden, andererseits in Frankreich und vielen anderen westlichen Städten. Dann berichtet er, wie in Russland
Mitte der Woche die Teilnehmerzahlen an den Demos einbrechen. Ein Rechercheteam zeigt, dass der Hotelkomplex noch im Bau ist, keine Innenausstattung besitzt, die aber breit in Nawalnys Video über Putins angeblichen Protzpalast ausgewalzt wird. Es wird für alle sichtbar: Nawalnys Film ist ein Riesenfake.
Hier Abschnitte vom Schluss von Ungars Artikel:
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Während von der vermeintlichen Enthüllung Nawalnys relativ distanzlos berichtet wurde und die Behauptungen der Dokumentation als Fakten übernommen wurden, ringt sich der Mainstream angesichts der tatsächlichen Besitzverhältnisse zahllose Konjunktive ab. Gegenüber Putin gibt es keine Unschuldsvermutung. Nawalny dagegen wird mit medialem Nimbus gekrönt. Was Nawalny angeht, wird in einem unglaublichen Ausmaß mediale Reinwaschung betrieben. Egal, ob auf Nawalnys rassistische Aussagen oder seine dunklen Finanzkanäle hingewiesen wird – Nawalny ist der deutschen Journaille heilig. Jede Differenzierung fällt aus. Man hat sich gemein gemacht, damit allerdings jeden journalistischen Anspruch aufgegeben.
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So wird am Fall Nawalny auch sichtbar, in welchem Zustand sich die deutsche Politik und vor allem deutsche Medien befinden. Haltungsjournalismus durchzieht inzwischen das ganze Spektrum des deutschen Blätterwalds. Der Glaube, für die gute und richtige Sache zu stehen, hat journalistisches Bemühen um Fakten und Zusammenhänge verdrängt.
Der Versuch, durch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine balancierte und ausgewogene Berichterstattung zu gewährleisten, ist ebenso gescheitert wie der Versuch, es den Markt regeln zu lassen. Die einstmalige Vielfalt der Presselandschaft in Deutschland ist durch einen Konzentrationsprozess auf einige wenige Medienkonzerne und damit auf wenige Chefredaktionen reduziert worden, die die Meinung vorgeben – alle bestens vernetzt und in den immergleichen transatlantischen Organisationen aktiv. So wird das nichts mit der Umsetzung des Anspruchs, freien und unabhängigen Journalismus zu pflegen.
Mit der unterschiedlichen Bewertung von Protesten, je nachdem, wo sie stattfinden, und dem vehementen Festhalten am Nawalny-Narrativ zeigt der deutsche Journalismus nicht nur, wie wenig er journalistischen Grundregeln folgt, sondern auch, wie unreformierbar er ist. Es geht ihm um die Sache, die gute Sache, für die Deutschland und der Westen angeblich stehen. Mit dieser Sache macht er sich gemein und gibt dafür seinen Anspruch auf, aufklärend zu sein, und damit kippt die gute Sache ins Schlechte. Es wird ein notwendiges Korrektiv genommen. Die Haltung hinter dem Haltungsjournalismus mag ja verständlich und nachvollziehbar sein. Das Ergebnis ist dennoch für die Demokratie verheerend. Am Fall Nawalny und der Berichterstattung darüber lässt sich diese Schieflage in aller Prägnanz ablesen.
Ralf Arnold: Die
Mainstream-Blase
Der Autor des folgenden Textes ist seit vielen Jahren Redakteur und Nachrichtensprecher beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und schreibt hier unter Pseudonym. Der Redaktion ist seine Identität bekannt. Er berichtet aus dem Innenleben einer Nachrichtenredaktion während der Corona-Krise.
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Selektive Wahrnehmung und Herdentrieb
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Jeder kennt sicherlich den Effekt der „selektiven Wahrnehmung“. Ist zum Beispiel man selbst oder die Frau schwanger, sieht man höchstwahrscheinlich auf der Straße immer mehr schwangere Frauen. Oder wenn man sich in jemanden verliebt, der eine bestimmte Automarke fährt, dann entdeckt man plötzlich diese Automarke, in der gleichen Farbe, permanent auf den Straßen. Dieser Effekt tritt auch im Journalismus auf.
Vor Jahren gab es zum Beispiel in Deutschland einen schweren Vorfall mit mehreren Kampfhunden, die ein dreijähriges Mädchen totbissen. Es gab damals große Betroffenheit, eine politische Diskussion über Konsequenzen setzte ein, eine „Wesensprüfung“ für Hunde und strengere Regeln für Hundebesitzern wurden gefordert, die Medien berichteten tage- und wochenlang darüber. Und in der gleichen Zeit wurden auf einmal mehr und mehr Fälle von Hundeangriffen gemeldet. Von der Polizei kamen plötzlich Berichte über selbst sehr geringfügige Vorfälle. Man hätte denken können, dass sich alle Hunde Deutschlands wie Hitchcocks Vögel zum Generalangriff verabredet hätten.
Was war passiert? Die allgemeine Wahrnehmung war sensibilisiert und extrem fokussiert worden, und zwar auf allen Ebenen. Ein Dackel biss im Park jemanden in die Wade, der meldete das sofort der Polizei und zeigte den Besitzer an, die Polizei gab die Meldung sofort an die Presse weiter, und die machte eine Nachrichtenmeldung daraus, obwohl es letztlich eine Lappalie war. Durch die alarmierte Grundhaltung und die verengte Wahrnehmung aller Beteiligen erhielt aber die Lappalie, die normalerweise unter den Tisch gefallen wäre, eine überdimensionierte Bedeutung. Und die Leser, Hörer oder Zuschauer merkten auf und dachten sich: „Schon wieder! Das häuft sich jetzt aber.“
Denselben Effekt kann man natürlich auch im Bereich der Meldungen über Kriminalität beobachten. Beim Mediennutzer kann zum Beispiel der Eindruck entstehen, dass die Situation im Land immer schlimmer und gefährlicher wird und dass man sich kaum mehr auf die Straße trauen kann. Dabei kann es sein, dass die reinen Statistiken zeigen, dass die Zahl der Gewaltdelikte insgesamt immer weiter zurückgeht. Das widerspricht dem subjektiven Eindruck, doch das beruhigt seltsamerweise kaum jemanden. Die Bilder und Berichte von einzelnen Schicksalen wiegen weitaus mehr als die nüchternen Zahlen.
Man ahnt, worauf ich hinaus will. In der Corona-Krise erleben wir meiner Meinung nach im Prinzip den gleichen Effekt in globaler, vollkommen übersteigerter und geradezu paranoider Dimension. Und das betrifft so gut wie jeden: Den einfachen Bürger, den Polizisten, den Journalisten, den Politiker und sogar den Arzt und den Wissenschaftler. Keiner ist per se davon frei. Außer er macht sich frei und wagt, eigenständig zu denken und über den Tellerrand hinaus zu schauen. Doch es herrscht eben ein weit verbreiteter journalistischer Herdentrieb. Die meisten Journalisten schauen in die Tageszeitungen, die jeden Tag in die Redaktion geliefert werden. Und natürlich sind das ausnahmslos Zeitungen, die zum Mainstream gehören: Welt, FAZ, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche und die regionalen Zeitungen. Am Abend wird „heute“ und die „tagesschau“ geguckt, danach die einschlägigen Talkshows, von Anne Will bis Maischberger. Auch dort ist fast ausnahmslos Mainstream zu finden. Wirkliche Kritiker des Corona-Narrativs werden grundsätzlich nicht eingeladen (Ausnahmen gibt es manchmal bei Markus Lanz).
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Ein perfides Framing
Ob man das Corona-Virus mit den PCR-Tests überhaupt nachweisen kann, woher es letztlich kommt, wie gefährlich es nun wirklich ist und was die richtigen Maßnahmen dagegen sind – das kann ich auch nicht sicher sagen. Aber darum soll es hier auch überhaupt nicht gehen. Dass es da eine üble Krankheit gibt, dass Menschen daran sterben und dass man das ernst nehmen muss, das leugne ich in keinster Weise.
Und damit sind wir schon beim nächsten Reizwort, dem sogenannten „Corona-Leugner“. Ein Begriff, der seit dem Sommer immer mehr um sich greift und auch von den Mainstream-Medien inzwischen regelmäßig auf Kritiker der staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen angewendet wird. Der Vergleich mit dem „Gottes-Leugner“ und dem „Holocaust-Leugner“ ist offensichtlich. Während der Begriff des „Gottes-Leugners“ zumindest in unserer Gesellschaft längst Geschichte ist, ist der Begriff des „Holocaust-Leugners“ noch aktuell und es ist kein Zufall, dass man den „Corona-Leugner“ unwillkürlich mit ihm assoziiert. Dass man Gott gar nicht leugnen kann, sondern nur an ihn nicht glauben, ist inzwischen breiter Konsens. Der „Holocaust-Leugner“ ist dagegen die einzige allgemein anerkannte Ausnahme, bei der Journalisten das Wort „leugnen“ verwenden. Es ist ansonsten nämlich tabu, zumindest sollte es das sein. Ganz einfach, weil es im Wortstamm „lügen“ enthält und damit eine Lüge unterstellt. Verantwortungsvolle Journalisten wissen, dass Angeklagte vor Gericht die Vorwürfe niemals leugnen, sondern bestreiten. Selbst nach einem rechtskräftigen Urteil sollte das so sein, denn auch Gerichte können irren und Prozesse können wiederaufgerollt werden.
Der Begriff „Corona-Leugner“ ist nun auf dreifache Weise infam. Erstens wegen der sprachlichen Ähnlichkeit mit dem sozial geächteten „Holocaust-Leugner“, zweitens weil den Corona-Kritikern damit pauschal angedichtet wird, dass sie die Existenz des Virus bestreiten (was bei den allermeisten nicht zutrifft) und weil ihnen zu schlechter Letzt auch noch unterstellt wird, bewusst zu lügen. Das ist nicht nur schlechter Stil, sondern perfide und sorgt dafür, die Gräben in der Gesellschaft noch weiter zu vertiefen.
Ein ebenso äußerst zweifelhafter Begriff, der als diffamierendes Framing verwendet wird, ist der des „Verschwörungstheoretikers“. Er sagt im Grunde alles und nichts. Das kann einer sein, der an Chemtrails glaubt oder daran, dass die Mondlandung der Amerikaner nur inszeniert war, aber es kann auch einer sein, der einen Watergate-Skandal aufdeckt oder der behauptet (wie geschehen), dass der Irak keine Massenvernichtungswaffen gehortet hat, und der später in seiner Annahme bestätigt wird. Im Grunde muss jeder investigative Journalist zu einem Teil auch ein Verschwörungstheoretiker sein, denn selbstverständlich wollen die Herrschenden dieser Welt nicht all ihre Umtriebe veröffentlicht haben und halten sie daher geheim. Insofern ist es einigermaßen grotesk, dass Medien diesen Kampfbegriff der Regierenden übernehmen und gedankenlos verwenden. Auch intern wird sich über angebliche Verschwörungstheoretiker lustig gemacht. Viele Kollegen amüsieren sich, dass das Irre seien, die glauben, dass Bill Gates zusammen mit Hitler auf der Rückseite des Mondes eine Impfstation aufmachen wolle. Oder ähnlich kindischer Unsinn.
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Ein Versuch einer Erklärung
Immer wieder mache ich mir Gedanken, warum fast alle meiner Kollegen so bereitwillig und kritiklos dieses Narrativ von Regierung und von (wenigen von der Regierung ausgesuchten) Wissenschaftlern übernehmen und weiter verbreiten. Wie schon erwähnt, spielt sicher die Sorge um die eigene Gesundheit oder die von Angehörigen eine Rolle. Aber es ist noch mehr. In den letzten Jahren hat sich zunehmend etwas herausgebildet, was „Haltungsjournalismus“ genannt wird. Es ist eine intellektuelle und moralisierende Überheblichkeit, die sich meiner Meinung nach immer mehr verbreitet. Man gehört einfach zu den „Guten“, zu denen, die auf der „richtigen Seite“ stehen. Man glaubt, den ver(w)irrten Bürger belehren zu müssen. Es geht nicht mehr um Neutralität, sondern darum, die „richtige Sache“ zu vertreten, und erstaunlich oft deckt sich das mit den Interessen der Regierung. Der oben erwähnte Satz von Hanns-Joachim Friedrichs ist inzwischen sogar völlig umgedeutet worden, im Sinne des „Haltungsjournalismus“.
Das aber entfremdet die Journalisten zunehmend von einem guten Teil ihrer Klientel. In den 90er Jahren wurde uns Reportern, Redakteuren und Moderatoren der rote Teppich ausgerollt, wenn wir irgendwo im Land bei den Menschen auftraten. Heute müssen wir fast schon froh sein, wenn nicht „Lügenpresse!“ gerufen wird. Natürlich ist dieser Begriff falsch und aufgrund seiner Geschichte abzulehnen, aber an der zunehmenden Entfremdung haben wir Journalisten einen großen Anteil.
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