Lesefrüchte
April 2023
Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind und zitieren Auszüge. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.
Lesefrüchte im vergangenen Monat
Julia Weiss: Wir bipolaren Menschenaffen
Alexander King: Nach Corona hat sich die Debattenkultur in Deutschland nie erholt
Dr. Kay Klapproth antwortet der Rheinischen Neuen
Zeitung
Dietmar Krug: Moralischer Narzissmus
Julia Weiss: Wir bipolaren Menschenaffen
Warum hat ausgerechnet die deutsche Bevölkerung mit ihren besonderen geschichtlichen Erfahrungen in der Corona-Krise umfassende Freiheitseinschränkungen, Selbstschädigung und Ausgrenzung einer Minderheit widerspruchslos hingenommen und aktiv unterstützt? Während psychologische Theorien die Ursachen eher in den belastenden Lebensbedingungen unserer Gesellschaft vermuten, behauptet die Evolutionsbiologie, dass die Bereitschaft zur kollektiven Feindseligkeit ebenso zum naturgeschichtlichen Erbe des Menschen gehört wie seine hochentwickelten sozialen Fähigkeiten.
„Der Verdacht, dass Vorprogrammierungen menschliches Verhalten mitbestimmen, liegt nahe, zeigt er doch in seinem Sozialverhalten allen Erfahrungen der Geschichte zum Trotz eine oft erstaunliche Unbelehrbarkeit.“ So beschrieb der Verhaltensforscher Irenäus Eibel-Eibesfeldt in den 70er Jahren gelassen das Phänomen, dessen Zeitzeugen wir heute sind.
(...)
Der Mensch, das beschriebene Blatt
Mittlerweile ist es – außer in den USA (4) – ziemlich unstrittig, dass der Mensch nicht als unbeschriebenes Blatt auf die Welt kommt. Wie alle Lebewesen hat er eine Naturgeschichte, die in seinem Erbgut verankert ist – in seinem Körper ebenso wie in seinen Gefühlen und seinem Verhalten: „Niemand zweifelt an der Überlegenheit unseres Intellekts. Aber wir haben keine Grundbedürfnisse, die nicht auch bei unseren nahen Verwandten vorhanden wären. Genau wie wir streben Affen und Menschenaffen nach Macht, haben Freude am Sex, wollen Sicherheit und Zuneigung, verteidigen ihr Revier – wenn es sein muss, bis aufs Blut – und wissen Vertrauen und Kooperation zu schätzen. Ja, wir haben Computer und Flugzeuge, aber unsere psychologische Verfassung bleibt die eines sozialen Primaten.“ schreibt der Primatenforscher Frans de
Waal. (5)
Vergleiche des Sozialverhaltens mit dem unserer nächsten Verwandten geben Hinweise auf die Herkunft dieses Verhaltens: Gleicht es sich deutlich bei Menschen, Schimpansen und Bonobos, stammt es aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem gemeinsamen Erbgut - das fast 99 Prozent unseres gesamten Erbguts ausmacht.
Genetisch vorprogrammiertes Verhalten kommt nie „rein“ zum Ausdruck, sondern immer moderiert bzw. gefiltert durch epigenetische Vorgänge, durch die jeweilige Kultur, die persönliche Lebensgeschichte und die aktuelle Situation. Von ererbten Verhaltensprogrammen als elementarem Hintergrund unserer meisten Handlungsmotive zu sprechen impliziert daher nicht, dass wir diesen Beweggründen willenlos ausgeliefert sind. Wir können sie normalerweise aus taktischen, moralischen oder anderen Gründen bewerten, dosieren, zulassen oder nicht zulassen. Vor allem aber wägen wir ab: Einer der wichtigsten Hemm- und Kontrollmechanismen ist, dass bestimmte natürliche Antriebe sich gegenseitig begrenzen. So halten sich Autonomiebestrebungen und Aggressionen einerseits und das Bindungsbedürfnis andererseits wechselseitig in Schach.
Der bipolare Menschenaffe
Frans de Waal hat sich ein Leben lang mit den mitfühlenden und kooperativen Eigenschaften von Menschenaffen befasst. Dennoch hat er allen Versuchen der Externalisierung unserer unliebsamen Eigenschaften einen besonders dicken Riegel vorgeschoben: Er bezeichnet uns als den „biopolaren Menschenaffen“ - zum Bösen ebenso prädestiniert wie zum Guten:
„Ist Hass oder Liebe typisch für uns? Was ist für unser Überleben entscheidend: Konkurrenz oder Kooperation?…Solche Fragen sind für bipolare Charaktere wie uns Zeitverschwendung. Als würde man fragen, ob man eine Fläche am besten nach der Länge oder der Breite misst.“ (6)
Für de Waal ist der Mensch von Natur aus eins der sozialsten Säugetiere auf dieser Erde – und er ist gleichzeitig von Natur aus zu bodenloser Brutalität fähig.
Der Pol des Guten: „Wir sind bis ins Mark sozial“
„Wir gehören zu einer Kategorie von Tieren, die Zoologen als ‚obligatorisch gesellig’ bezeichnen; das heißt, wir haben keine andere Wahl als aneinander zu kleben. Deshalb lauert die Angst vor dem Scherbengericht in den hintersten Winkeln eines jeden menschlichen Gehirns: Ausgestoßen zu werden, ist das Schlimmste, was uns passieren kann….Die Evolution hat uns das Bedürfnis eingepflanzt, dazuzugehören und sich akzeptiert zu fühlen. Wir sind bis ins Mark sozial.“ schreibt de Waal. (7) Benehmen wir uns also gut, weil wir müssen? Weil wir wissen, dass wir auf andere angewiesen sind? Manchmal ja, aber meistens tun wir es, weil es uns Freude macht. Denn wie bei so vielem, das absolut überlebensnotwendig ist, wie Sex oder Essen, hat die Natur dafür gesorgt, dass auch Kooperation und Fürsorglichkeit uns glücklich machen. (8)
Altruismus macht glücklich
Bonobos und Schimpansen zeigen einen starken Hang zur Kooperation und zu altruistischem Verhalten. Sie haben ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit und Ausgleich, und sie unterstützen sich gegenseitig. Sie trösten einander (9), sie schauen nach Kranken, sie lindern deren Not durch praktische Hilfe (10), sie versorgen die Wunden anderer, sie retten sie aus Gefahren (11), sie helfen Alten und Gebrechlichen, sie trauern um Tote (12), sie adoptieren fremde Kinder und sie helfen mitunter sogar anderen Spezies in Not (13). Leittiere stärken den sozialen Zusammenhalt, indem sie Streit schlichten und sich dabei auf die Seite des Schwächeren stellen. Kurz: Alle Menschenaffen können sich in andere hineinversetzen, sie fühlen buchstäblich mit, sie leiden, wenn andere leiden. Sie können, ob nun durch Mitgefühl oder durch Überlegung, die Perspektive anderer einnehmen. (14) Besonders ausgeprägt sind diese Eigenschaften bei den Bonobos; anders als unter Schimpansen wurde bei ihnen noch nie ein Mord beobachtet, und auch an den Grenzen ihrer Territorien halten sie Frieden mit ihren Nachbarn. Vielleicht nicht ganz zufällig haben Frauen bei den Bonobos die Führungspositionen inne.
Dass nicht nur Primaten, sondern auch Elefanten und Delphine ihren Artgenossen gezielt helfen (15) und sogar Vögel das Leid von anderen nachempfinden können (16), zeigt, wie tief auch in den älteren Zweigen unseres Evolutions-Stammbaums Empathie und Altruismus verankert sind. „Die empathische Reaktion zählt zu den stärksten, die es gibt“, sagt de Waal. (17)
Der Pol des Bösen
Die britische Verhaltensforscherin Jane Goodall fand die wilden Schimpansen, die sie ein Leben lang beobachtete, so liebenswürdig und sympathisch, dass ihre Bücher sich lesen wie Familienromane. Aber auch sie und andere Forscher wurden Zeugen brutaler Kriege zwischen benachbarten Schimpansengruppen. Der Verhaltensbiologe Wolfgang Wickler schildert sie so: „Als Auftakt patrouillieren Männchen, eins hinter dem anderen gehend, ungewöhnlich still und leise entlang der Grenze zum Nachbarterritorium und überschreiten die Grenze vorsichtig. Treffen sie auf eine Gruppe der Nachbarn, rufen sie laut und ziehen sich zurück. Einzeln angetroffene Nachbarn werden attackiert, verwundet oder getötet. Dabei schlagen und springen die Angreifer nacheinander auf ihr Opfer, beißen ihm Hoden und Ohren ab und reißen mit ihren starken Eckzähnen tiefe Wunden, bis die Eingeweide hervortreten. Babys werden ihren Müttern entrissen, umgebracht und teilweise verzehrt. Mütter, die ihre Kinder verteidigen, erleiden meist tödliche Wunden. Auf diese Weise wurde eine dreißig Individuen zählende Gruppe im Verlauf mehrerer Jahre von ihren Nachbarn ausgelöscht, ihr Territorium fiel an die Sieger. Überleben können Weibchen, die zur Gruppe der Sieger überlaufen.“ (18)
Du sollst töten
Ungerührt fährt Wickler fort: „Theologen kennen dieses Geschehen aus der sogenannten Deuteronomischen Gesetzessammlung, in der Moses den Israeliten außer den Zehn Geboten noch weitere Anweisungen Gottes verkündete, darunter diese zum Umgang mit besiegten Feinden nach Eroberungszügen: „Wenn der Herr, Dein Gott, sie in deine Gewalt gibt, sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen. Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich plündern lässt, darfst du als Beute nehmen“ (Dt 20, 13–14). — „Wenn Du zum Kampf gegen deine Feinde ausziehst und der Herr, dein Gott, sie alle in deine Gewalt gibt, wenn du dabei Gefangene machst und unter den Gefangenen eine Frau von schöner Gestalt erblickst, wenn sie dein Herz gewinnt und du sie heiraten möchtest, dann sollst du sie in dein Haus bringen…. Sie soll in deinem Haus wohnen und einen Monat lang ihren Vater und ihre Mutter beweinen. Danach darfst du mit ihr Verkehr haben“ (Dt 21, 10–13). Im Kampf gegen die Midianer befahl Mose: „Nun bring alle männlichen Kinder um und ebenso alle Frauen, die schon einen Mann erkannt und mit einem Mann geschlafen haben. Aber alle weiblichen Kinder und die Frauen, die noch nicht mit einem Mann geschlafen haben, lasst für euch am Leben!“ (Num 31, 17- 18)“. (19)
Von Ratten und Menschen
Konrad Lorenz, Begründer der vergleichenden Verhaltensforschung, bemerkte nicht ohne Staunen, dass ausgerechnet die überaus sozialen Ratten auch hemmungslos brutal sein können: Innerhalb ihrer Großfamilien-Gruppe seien sie „wahre Vorbilder in allen sozialen Tugenden. Aber sie verwandeln sich in wahre Bestien, sowie sie es mit einer anderen als der eigenen Sozietät zu tun haben.“ Die für Säugetiere typische mütterliche Duldsamkeit und Zärtlichkeit gegenüber dem Nachwuchs legen in der Rattengesellschaft auch Väter, Großeltern, Onkel, Tanten, Großtanten „bis ins, ich weiß nicht, wievielte Glied“ an den Tag; alle lassen die Kleinen zuerst ans Futter, und ältere und stärkere Tiere gewähren Jugendlichen bei den attraktivsten Sexualpartnern großzügig den Vortritt. Gruppenfremde aber werden gnadenlos verfolgt, schwer verletzt und getötet. (20)
Bekannt als „Die dritte Welle“ wurde in den 60er Jahren das Experiment eines für seine handfesten Lehrmethoden bekannten kalifornischen Lehrers: Als einer seiner Schüler nicht fassen konnten, was im „Dritten Reich“ geschehen war, gelang es ihm innerhalb weniger Tage, seine Schüler in eine stramm gehorsame Truppe von Guten einerseits und Bösen, weil Ungehorsamen, andererseits zu spalten. Die Guten übertrumpften sich gegenseitig im Denunzieren, auch ihrer besten Freunde. Hauptvorwurf an die Ausgegrenzten: ihnen fehle es an Gemeinschaftssinn (kommt einem bekannt vor).
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Alexander King: Nach Corona hat sich die Debattenkultur in Deutschland nie erholt
Die Verengung des Diskursraums wird immer wieder beklagt. Und es stimmt ja auch: Kritik an der Regierungspolitik oder allgemein an den vorherrschenden Zuständen wird gerne mal von Politik und Medien als Verschwörungstheorie abgetan.
Für Grenzfälle hat man neue Vokabeln zur Hand: Wem man zwar nicht ernsthaft unterschieben kann, dass er rechtem Gedankengut anhängt, den kann man immer noch als „rechts-offen“ bezeichnen. Wessen Argumente einem nicht nachvollziehbar und irgendwie komisch vorkommen, der „schwurbelt“. Dieses Verdikt kann altehrwürdige bundesrepublikanische Institutionen wie die Ostermarsch- oder gar die Frauenbewegung treffen, und erst recht eine Waffe in neuen Auseinandersetzungen, etwa mit Kritikern der Corona-Politik, sein.
Akteure stammen aus demselben soziokulturellen Milieu
Die zunehmende Konformität im politischen Diskurs ist auch eine Folge der sich vertiefenden sozialen Spaltung. Die Zugänge in die Redaktionsstuben sind enger geworden, seit es die Journalistenschulen der großen Verlage sind, die den Nachwuchs formen. Die höchst individuellen Aufstiegswege, die vom Volontariat durch die unterschiedlichsten Stationen in Print, Funk und Fernsehen führten und dabei interessante Journalistenpersönlichkeiten hervorbrachten, gehören überwiegend der Vergangenheit an. Sozial und kulturell eng gefasst ist auch die Rekrutierung des politischen Führungspersonals, das, wie Studien zeigen, immer homogener wird.
Dass man den Eindruck bekommt, Regierende und Meinungsbildende zögen am selben Strang, hat damit zu tun: Die Akteure stammen aus demselben soziokulturellen Milieu, sie teilen dieselben Werte, sie haben ähnliche soziale Interessen in dieser Gesellschaft. Sie lesen dieselbe Literatur. Sie kennen und treffen sich im Alltag, besuchen dieselben Restaurants und Kulturevents, wohnen in denselben angesagten Stadtteilen.
Sozialer Protest gegen die Grünen? Ein Sakrileg
Ihren reinsten politischen Ausdruck findet dieses Lebensgefühl in den Grünen. Wo immer in Deutschland Meinungen geformt und Normen aufgestellt werden, in Redaktionen, in Bildungseinrichtungen, im Kulturbereich, haben die Grünen und ihr soziokulturelles Umfeld die Lufthoheit erobert.
Jetzt sind sie außerdem an der Bundesregierung beteiligt und dort u.a. für die Außen- und Wirtschaftspolitik verantwortlich, zwei Ressorts, die in der aktuellen Lage noch bedeutsamer sind als ohnehin schon. Kritik an ihrer Performance ist selten und sowieso unerwünscht. Nicht nur, wenn sie von Sahra Wagenknecht formuliert wird. Als ich es wagte, mit dem Protestbündnis „Heizung, Brot und Frieden“ eine Kundgebung vor der Bundeszentrale der Grünen abzuhalten, um gegen die damals noch vorgesehene Gasumlage und andere soziale Härten in der Energiekrise zu demonstrieren, empörten sich manche Journalisten: Sozialer Protest gegen die Grünen? Ein Sakrileg. Das fanden selbst einige meiner Genossen.
Politik und Medien treffen sich auf Twitter
Der großen Einigkeit auf der einen entspricht die Entfremdung vom Rest der Gesellschaft auf der anderen Seite. Politik und Medien treffen sich auf Twitter. Dort entstehen Blasen, die sich vehement voneinander und alle gemeinsam vom Rest der Welt abgrenzen. Ein Paralleluniversum mit eigenen Wahrheiten und Deutungsmustern.
Ich hätte im Januar beinahe eine Wahlkampfveranstaltung mit Sahra Wagenknecht abgesagt, weil in der Twitter-Welt der Eindruck entstanden war, wir hätten mit Gegendemonstranten und Tumulten und außerdem mit rechter Unterwanderung zu rechnen. Gut, dass wir die Veranstaltung durchgeführt haben. Es stellte sich heraus, dass nichts von alldem in der realen Welt eintrat. Besucher von rechts gab es keine, dafür viele linke Sympathisanten und interessierte Nachbarn. Gegendemonstranten von links gab es erst recht nicht, von einem als Krokodil verkleideten Mann mit fünf Kompagnons und einem Hund abgesehen.
Berichterstattung meilenweit von jeder Evidenz
Die Wirklichkeit in und außerhalb der medialen Blase: Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Kluft dazwischen gab die Berichterstattung über den „Aufstand für Frieden“ ab. Bereits im Vorfeld war ein vernichtendes Urteil über die Kundgebung gefällt, über angeblich massive rechte Mobilisierung spekuliert worden. Dass es dann ganz anders kam, dass sich am Brandenburger Tor Zehntausende normale Bürger versammelten, Rechte und Russlandfreunde keine Rolle spielten und auch kaum sichtbar waren, tat der medialen Kampagne keinen Abbruch. In den sogenannten Qualitätsmedien, leider auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, kannte die Verleumdung der Kundgebung und ihrer Initiatorinnen keine Schamgrenze mehr. Teilweise entfernte sich die Berichterstattung meilenweit von jeder Evidenz.
In politischen Magazinen, Talkshows oder Satiresendungen gab es nur einen, und zwar einen extrem feindseligen Tenor. Beängstigend ist die Sogwirkung, die eine solche Kampagne entfaltet: Selbst die Führung der Linken stimmte mit ein.
Die Corona-Debatte nahm religiöse Züge an
Auch Kritiker der Corona-Maßnahmen sahen sich in den letzten Jahren einer massiven Stimmungsmache ausgesetzt. Die Berliner Zeitung gehörte zu den wenigen Medien mit einer differenzierten Berichterstattung und einem diversen Meinungsbild. Ansonsten war es Gang und Gäbe, Ungeimpfte auszugrenzen und zu beschimpfen, Gehorsam gegenüber allen Maßnahmen einzufordern, und diejenigen, die es wagten, den Sinn einzelner Maßnahmen zu hinterfragen, pauschal zu verunglimpfen. Selbst international anerkannte Wissenschaftler mussten sich, wenn sie von der gerade vorherrschenden Lehre abwichen, von Hobby-Virologen medial an den Pranger stellen lassen.
Die Debatte nahm religiöse Züge an. Die Zugehörigkeit zur richtigen Seite konnte durch Äußerlichkeiten, etwa freiwilliges Maskentragen, selbst wo es nicht (mehr) vorgeschrieben war, oder Foto-Bekenntnisse auf dem Facebook-Profil, demonstriert werden. Umgekehrt war, wer sich dieser Symbolik verweigerte, schnell verdächtig, ein Corona-Leugner zu sein.
Wieder wurden viele Menschen mit ihren Sichtweisen übersehen
Zu Beginn meiner kurzen Zeit als Abgeordneter rief ich in meinem Wahlkreis einen Corona-Gesprächskreis ins Leben. Ich wollte wissen: Wer sind die Skeptiker, was bewegt sie? Wir trafen uns monatlich in einem Tempelhofer Park. Es kamen Leute, die sich sonst für Geflüchtete oder in Hausprojekten engagierten, die bislang die Grünen, SPD oder Linke gewählt hatten. Und die sich, weil sie sich nicht impfen lassen wollten oder einzelne Corona-Maßnahmen kritisch sahen, im öffentlichen Diskurs diffamiert sahen. Einige nahmen an Montagsdemos in unserem Bezirk teil. Wir stimmten nicht immer in allem überein, aber mir war der Respekt wichtig. Ich hätte mir mehr solche Diskussionsformate gewünscht.
Nach dem Auslaufen der Maßnahmen und mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs stellten wir fest, dass sich die Debattenkultur in Deutschland nicht mehr erholte. Im Gegenteil: Wieder wurden viele Menschen mit ihren Sichtweisen übersehen oder gar verunglimpft. Wir beschlossen, uns weiterhin zu treffen, auch nach dem Ende meines Mandats.
Der Hang zur Konformität schränkt die Freiheit ein
Ein aktuelles Beispiel dafür, dass es sich rächt, die Leute außerhalb der eigenen Blase zu übersehen, ist der Berliner Volksentscheid zur Klimaneutralität. Dieser scheiterte in Bausch und Bogen und den Initiatoren stand anschließend der Schock darüber ins Gesicht geschrieben, dass es in Berlin so viele Menschen gibt, die sie offensichtlich nicht erreichen konnten – deren Interessenlage sie schlicht nicht auf dem Schirm hatten. Die Menschen, die nicht in Kreuzberg, Schöneberg oder Mitte wohnen, sondern in Marienfelde, Spandau oder Marzahn. Hilflos erklären Luisa Neubauer & Co., diese Menschen hätten eben „noch nicht verstanden“. Demokratie heißt aber, dass die Mehrheit recht bekommt und nicht, wer sich selbst für am schlauesten hält.
Der Hang zur Konformität schränkt die Freiheit ein und führt dazu, dass kritische Gedanken nicht wachsen, sich nicht im offenen Diskurs bewähren und diesen bereichern können, sondern allzu schnell vom Tisch gewischt werden. Dabei können unvoreingenommen geführte Debatten dazu beitragen, wieder Anschluss an breitere Teile der Bevölkerung zu finden, deren Ansichten und Anliegen im herrschenden Konsens keinen Platz haben. Doch eigensinnige Köpfe als Gewinn zu sehen, haben sich Parteiführungen und Medien leider abgewöhnt.
Die Mehrheit der Bevölkerung folgt dem Konsens von oben nicht mehr ohne Weiteres, wie insbesondere das öffentliche Meinungsbild zu Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg zeigt. Die Widerständigkeit der Menschen, die sich allen Belehrungen zum Trotz ihre eigene Meinung bilden, ist ein Hoffnungsschimmer. Die zunehmende Konformität in Medien und Politik hat in diesem Sinne nur eingeschränkt mit gesellschaftlicher Hegemonie zu tun. Eigentlich gleicht sie eher einer Trutzburg.
Alexander King war von Dezember 2021 bis März 2023 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und medienpolitischer Sprecher der Linke-Fraktion. Seit März arbeitet er als Referent im Bundestag.
Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde.
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Aus Telegram: Dr. Kay Klapproth antwortet der Rhein-Neckar-Zeitung
Am 2.4.23 erschien in der RNZ der Artikel „Warum Querdenker meinen, Recht gehabt zu haben“
(Natürlich hatten sie nicht recht, zumindest nicht aufgrund der Faktenlage, die damals gar nicht bekannt gewesen sei, sondern aufgrund eines Bauchgefühls. „Wie ein blindes Huhn, das auch mal ein Korn findet.“)
Immunologe Dr. Kay Klapproth hat darauf mit einem Leserbrief reagiert, der nicht veröffentlicht wurde.
Sehr geehrte Redaktion der Rhein-Neckar-Zeitung,
vielen Dank für Ihren Artikel, in dem Sie uns erklären, dass Kritiker der Covid-19-„Impfungen“ blinden Hühnern gleichen, die hin und wieder ein Korn finden und deshalb jetzt das falsche Bild haben, im Recht gewesen zu sein.
In ihrem Artikel heisst es: „Dieses Bild, auf das sich die Anhänger noch jetzt beziehen, sei aber nicht aufgrund von Fachkenntnis und der Prüfung von Fakten entstanden, so Frühwirth. Sondern rein aus einem Bauchgefühl.“
Ich selbst bin als Biologe seit 20 Jahren in der immunologischen Forschung tätig und habe mir in dieser Zeit ein ausgeprägtes und differenziertes „Bauchgefühl“ erworben.
In dieser Pandemie hat mir mein „Bauchgefühl“ gesagt, dass die Entwicklung eines Impfstoffs auf Basis eines einzelnen viralen Proteins, das noch dazu als toxisch erkannt war, keine gute Idee sein dürfte, weil wir einerseits mit einem schnellen evolutionsbedingten Ausweichen der Viren vor der Immunantwort rechnen müssen und andererseits die speziellen Eigenschaften der Spike-Proteine zu unkalkulierbaren Nebenwirkungen führen könnten.
Dieses „Bauchgefühl“ hat mir gesagt, dass ein Präparat, welches wir in den Muskel injizieren, dort nicht bleiben wird, weil der Muskel durchblutet ist und die Lipidnanopartikel mit der mRNA in andere Regionen des Körpers gelangen werden, wo sie die Proteinexpression des Spike-Proteins induzieren und dadurch normale Funktionen der Zellen und des Immunsystems in gefährlicher Weise beeinträchtigen können.
Mein „Bauchgefühl“ hat mir gesagt, dass auch heute der Grundsatz in der Medizin und der Immunologie immer noch gilt: ein neuer Impfstoff benötigt umfassende und ausreichende vorklinische und klinische Tests, die seine Wirksamkeit und Sicherheit beweisen. Wenn man eine völlig neue Methode zur „Impfung“ bei Milliarden Menschen einsetzen will, darf man sich nicht auf die Angaben der Hersteller verlassen, sondern muss sicherstellen, dass insbesondere warnende Stimmen gehört werden, um zu verhindern, dass man die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringt.
Mein „Bauchgefühl“ hat mir erklärt, dass nach unseren wissenschaftlichen Erfahrungen die intramuskuläre Verabreichung eines neuartigen „Impfstoffs“ auf Basis von Nukleinsäuren keine ausreichende Immunität an den Grenzflächen unseres Körpers (Schleimhäuten) schaffen wird und es daher extrem unwahrscheinlich ist, dass wir durch unsere „Impfung“ andere Menschen vor Infektionen schützen können. Mein Bauch dachte, der politische Druck auf „Ungeimpfte“ und ihre gesellschaftliche Ausgrenzung wären deshalb nicht gerechtfertigt und daher abzulehnen.
Mein „Bauchgefühl“ hat mich auch immer gewarnt, dass es zu riskant wäre, wenn man junge Menschen und Kinder, die praktisch nicht von Covid-19 bedroht sind, mit „Impfstoffen“ behandelt, deren Nebenwirkungen noch unzureichend erforscht sind.
Aber die „echten“ Wissenschaftler haben uns ja erklärt, was die Fakten sind: keine „Impfung“ wurde jemals so gut überwacht, „Langzeitfolgen“ gibt es nicht, durch diese „Impfung“ schützt man sich und andere, auch Kinder müssen „geimpft“ werden, damit sie geschützt sind und ohne „Impfung“ gibt es keine Rückkehr zur Normalität. Menschen, die sich dieser Sichtweise nicht angeschlossen haben, wurden von Ihnen als Querdenker, Coronaleugner, Schwurbler, Verschwörungstheoretiker und schlimmeres abqualifiziert, denen man am besten gar nicht zuhören darf.
Ich hoffe, meine Kinder können an den Universitäten der Zukunft BAUCHGEFÜHL studieren, denn von Ihren sogenannten „wissenschaftlichen Fakten“ haben viele Menschen mittlerweile genug.
Freundliche Grüße,
Dr. Kay Klapproth
Dietmar Krug: Moralischer Narzissmus
Wie der Glaube an die eigene Zugehörigkeit zur ethischen Elite die Aufarbeitung der Corona-Krise verhindert. Anmerkungen zu einer "Talk im Hangar"-Sendung.
Die Pandemie ist vorbei. Die Pulverdämpfe der Propaganda lichten sich allmählich und geben den Blick frei auf das, was hinter uns liegt und was die letzten drei Jahre aus uns gemacht haben. Besser gesagt: Was wir aus uns gemacht haben.
Derzeit ist viel von Aufarbeitung der Corona-Krise die Rede. Selbst in den Maßnahmen-gläubigsten Zirkeln macht sich das verkaterte Gefühl breit, dass man womöglich hier und da übers Ziel hinausgeschossen ist. Bundeskanzler Nehammer räumt ein, man sei wohl zu „expertenhörig“ gewesen. Und man fragt sich: Wie das? Gegen Hörigkeit hätte bereits ein interessiertes Hinhören immunisiert, ein offenes Ohr für das gesamte existierende Spektrum der Experten. Der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker räsoniert öffentlich darüber, dass die Impflicht womöglich ein Fehler gewesen sei, man habe sie ohnehin nie aus Überzeugung, sondern nur aus Solidarität mitgetragen. Und man fragt sich: Spricht hier wirklich jener sozialdemokratische Politiker, der auf dem Höhepunkt des Feldzugs gegen die „Pandemie der Ungeimpften“ laut über eine Verschärfung der 2G-Regel nachgedacht hatte: Ungeimpfte Menschen sollten nicht mehr zur Arbeit gehen dürfen – was das Land in eine soziale Katastrophe gestürzt hätte.
Wer sich ein anschauliches Bild davon machen will, wie weit wir davon entfernt sind, uns über die Gräben hinweg auch nur ansatzweise über das zu verständigen, was in den letzten drei Jahren passiert ist, dem kann ich wärmstens die Diskussionssendung „Talk im Hangar 7“ auf Servus TV vom 2. März ans Herz legen. Sie stand unter dem Thema: „Tyrannei der Selbstgerechten: Nur noch eine Meinung erlaubt?“. Vertreter aus einem breit gestreuten Meinungsspektrum diskutierten über die Debattenkultur in unserer Gesellschaft.
Moderator Michael Fleischhacker stellte als konkretes Beispiel die öffentliche Außerfragestellung der 2G-Regel bzw. den Lockdown für Ungeimpfte zur Diskussion. Fleischhacker im Wortlaut: „Zu dem Zeitpunkt, als einige 100.000 Menschen vom sozialen Leben ausgeschlossen wurden per Verordnung und Gesetz, gab es keinen einzigen Wissenschaftler mehr, der nicht wusste, dass die Übertragung durch die Impfung nicht verhindert wird. Das heißt, dass ein getesteter Ungeimpfter überhaupt kein größeres epidemiologisches Risiko darstellt als ein ungetesteter Geimpfter. Die Geimpften mussten sich ja nicht testen. Es war für jeden Wissenschaftler klar, es war eine sachfremde Entscheidung.“
Zu ergänzen wäre allenfalls, was ich in meinem letzten Blog-Beitrag thematisiert habe: Da die Impfung weder Infektion noch Ansteckung verhindert hat und die Geimpften ungetestet freien Zugang zum öffentlichen Leben hatten, haben sie natürlich zur Verbreitung von Infektionen beigetragen, was zu vielen Erkrankungen und gar Todesfällen geführt hat. Die „sachfremde Entscheidung“, wie Fleischhacker sie nennt, hat nicht nur zu einer völlig unbegründeten Ausgrenzung und Diffamierung von Menschen geführt, sie war überdies ein fahrlässiger Umgang mit der Gesundheit der Bevölkerung – wider besseres Wissen.
Bemerkenswert ist, wie die Maßnahmen-Befürworter unter den Diskussionsteilnehmern auf Fleischhackers Einlassung reagiert haben. Der Journalist Heinz Sichrovsky fasst seine Sicht der Dinge in ein denkwürdiges Beispiel:
„Wenn ich auf die Straße gehe, hab ich ein Recht darauf, nicht zusammengeschlagen zu werden. Ich bin dafür, dass notwendige und wichtige Maßnahmen, nämlich das Verhindern schwerer Infektionen oder das Verhindern der Tatsache, mich zusammenzuschlagen, dass solche Maßnahmen gesetzt werden.“
Fleischhacker: „Das würden Sie gleichsetzen?“
Sichrovsky: „Natürlich!“
Ich gestehe: In solchen Momenten überfällt mich eine tiefe Ernüchterung, wenn ich an die künftige Aufarbeitung der letzten drei Jahre denke. Der Glaube versetzt offenbar auch jene Berge, die sich längst aus den zerbröselnden Narrativen der Maßnahmen-Befürworter angehäuft haben. Man kann diese Gläubigen hundertmal mit dem gut dokumentierten Argument konfrontieren: Alle Wissenschaftler, auch Maßnahmen-Befürworter wie Drosten, Kekulé, Streeck oder Stöhr, haben immer wieder betont, dass die Impfung nicht vor Infektion und Ansteckung anderer schützt. Die Gläubigen hören es, nicken verständig und sagen dann im vollsten Brustton der Überzeugung: 2G war trotzdem alternativlos, denn wir mussten uns doch vor Infektion und Ansteckung schützen!