Lesefrüchte

Oktober 2023

 

Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind und zitieren Auszüge. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.

 


Lesefrüchte im vergangenen Monat
Unsere Zeit (UZ): Die Besatzung ist die Ursache der Gewalt
Moon of Alabama:
Netanjahus strategisches Dilemma

Ingrid Rumpf:
„Stoppt die Spirale der Gewalt im Nahen Osten!“

Walter van Rossum:
Die Fälschung der Welt

Thomas Röper:
Der Sieger im Streit zwischen Armenien und Aserbaidschan sind ...

Dagmar Henn:
Ausforschung politischer Gegner: Die Sonnenblumenpartei...

 


 

Unsere Zeit (UZ): Die Besatzung ist die Ursache der Gewalt

(...) Wir dokumentieren auf dieser Seite jüdische Stimmen der Vernunft aus Israel, Deutschland und den USA, die die Gewalt der Hamas ebenso ablehnen wie die des israelischen Staates.

Breaking the Silence: Verhandelt!
Die Organisation „Breaking the Silence“ – „Das Schweigen brechen“ hat gemeinsam mit rund 30 Menschenrechtsorganisationen aus Israel eine Erklärung abgegeben. „Breaking the Silence“ ist eine Organisation von ehemaligen und aktiven Soldaten der israelischen Armee, deren Ziel es nach eigenen Angaben ist, „die israelische Öffentlichkeit mit der Realität des täglichen Lebens in den besetzten Gebieten zu konfrontieren“.

Wir, die Mitglieder der unterzeichnenden Menschenrechtsorganisationen in Israel, sind in diesen furchtbaren Tagen schockiert und entsetzt. Die entsetzlichen Verbrechen der Hamas gegen unschuldige Zivilisten – darunter Kinder, Frauen und alte Menschen – haben uns alle erschüttert und es fällt uns schwer, uns von den kaum zu ertragenden Bildern zu erholen. Einige von uns hielten sich während des Angriffs in den israelischen Ortschaften an der Grenze zum Gazastreifen auf; viele von uns haben Familienangehörige, Freunde und Kollegen, die die erschütternden Ereignisse miterlebt haben und sich immer noch in deren Zentren befinden; und wir alle kennen Menschen, die ermordet, verletzt oder entführt wurden. (…)

Die meisten unserer Gruppen bestehen aus Israelis und Palästinensern; daher haben einige von uns Verwandte und Freunde im Gazastreifen, die derzeit unter den ständigen Angriffen des israelischen Militärs leben. Kinder, Frauen, Greisinnen und Greise werden wahllos angegriffen und haben keine Aussicht auf Zuflucht. Auch jetzt – gerade jetzt – müssen wir unsere moralische und menschliche Haltung wahren und dürfen nicht der Verzweiflung oder dem Drang nach Rache nachgeben. (…)

Wir verlangen die sofortige Freilassung aller Geiseln und ein Ende der Bombardierung der Zivilbevölkerung in Israel und im Gazastreifen. (…) Als Menschen, die sich für die Förderung der Menschenrechte einsetzen und an die Unantastbarkeit des Lebens glauben, rufen wir eindringlich dazu auf, die wahllose Zerstörung von Leben und Infrastruktur der Zivilbevölkerung zu beenden. Wir rufen dazu auf, Verhandlungen zu führen und alle denkbaren Maßnahmen zu ergreifen, um die Freilassung der Geiseln herbeizuführen – unter Vorrang der von der Hamas festgehaltenen Zivilisten. Das ist die einzig humane und vernünftige Maßnahme, und das muss sofort geschehen.

Elephant in the room: Beendet die Gewalt!
Weit über 1.500 Wissenschaftler, überwiegend jüdische, hatten in einer gemeinsamen Erklärung „Elephant in the room“ vom 4. August 2023 auf den „Elefanten im Raum“ in der Debatte um die Zukunft Israels und Palästinas aufmerksam gemacht: Es könne keine Demokratie für Juden geben, solange Palästinenser unter einem Apartheid-Regime leben müssten. Mehr als 1.000 der Unterzeichner haben am 14. Oktober mit einer Erklärung auf den Überfall der Hamas und die brutale Reaktion Israels reagiert:

Wir verurteilen die Hamas für ihre abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Terroristen, die Hunderte von Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge und Senioren auf grausamste Weise abgeschlachtet und zahlreiche weitere entführt haben, müssen vor Gericht gestellt werden. Israel hat jedes Recht, sich zu verteidigen und diese Mörder zu verfolgen, wo immer sie zu finden sind.

In dieser Zeit des Schmerzes und der Verwüstung rufen wir Israel dazu auf:

1. Alles in seiner Macht Stehende tun, um die Geiseln zu befreien. Israel hält eine große Zahl von Palästinensern in Gefängnissen gefangen, darunter viele ältere Menschen. Israel muss sich um einen Gefangenenaustausch bemühen, um die eigenen und die entführten Staatsbürger anderer Länder vor dem sicheren Tod zu bewahren. 

2. Verzichten Sie auf die kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung des Gazastreifens für die Verbrechen der Hamas. Ein Massaker rechtfertigt nicht das nächste. Es würde nur zu weiteren Zerstörungen führen und den Kreislauf der Gewalt weiter antreiben. Wir rufen auf zum sofortigen Waffenstillstand und zur Deeskalation. 

3. Beenden Sie die gewaltsame Unterdrückung des palästinensischen Volkes. Die Apartheid, die jahrzehntelange Besetzung des Westjordanlands, die 16-jährige Belagerung des Gazastreifens mit zwei Millionen Palästinensern und die Auslöschung der Erinnerung an die Nakba – all dies trägt zu Verrohung und Gewalt bei. Dem muss dringend ein Ende gesetzt werden. Es gibt keinen anderen Weg.

Unsere Trauer und unsere Bestürzung dürfen uns nicht dazu verleiten, Rache zu üben und weiteres Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung zu verursachen. Wir rufen die Führungen Israels und der Palästinenser, die Regierung der Vereinigten Staaten, die internationale Gemeinschaft und alle friedenswilligen Menschen auf der ganzen Welt auf, sich gemeinsam für eine schnelle Beendigung der gegenwärtigen Gewalt und für einen wahrhaften und gerechten Frieden zwischen Israelis und Palästinensern einzusetzen.

Stoppt die Gewalt in Israel und in Gaza.

 


 

Moon of Alabama: Netanjahus strategisches Dilemma  (Deepl-Übersetzung)

Israel ist ein kolonialer Siedlerstaat im Dauerkonflikt mit den unterdrückten Einheimischen.
Es dachte, es könne in diesem Zustand überleben oder sogar seine Siedlungen ausbauen, indem es die gegneri­schen Kräfte mit seinem überlegenen Militär abschreckt.
Die Hamas hat diesen Abschreckungsmythos durchbrochen, indem sie Israel an einem Tag mehr Opfer zufügte, als es in allen vorherigen Kriegen erlebt hatte.
Natanjahu steht unter Druck, die Abschreckung wiederherzustellen, um den Zionisten wieder ein Gefühl der Überlegenheit zu vermitteln.
Das kann er nicht tun.
Jeder Landangriff in Gaza bedeutet einen urbanen Krieg in einer bereits zerstörten Stadt mit großen unterirdi­schen Anlagen. Bei der Einnahme von Bakhmut hatten die Wagener-Truppen insgesamt etwa 40.000 Opfer (Tote und Verwundete) zu beklagen. Die andere Seite hatte mehr als 70.000. Welchen Preis müssten die IDF zahlen, um die "Hamas zu zerstören"?

Der andere Faktor ist natürlich die Hisbollah und andere Widerstandsgruppen, die Israel aus dem Norden und aus verschiedenen anderen Richtungen angreifen könnten. Die Hisbollah hat lautstark erklärt, dass sie dies tun würde, wenn die IDF in den Gazastreifen eindringen. Die Hisbollah verfugt über etwa 100.000 Raketen - mehr als genug, um Israels Luftabwehr auszuschalten. Ihre Raketen mit der größten Reichweite können jede größere Stadt in Israel angreifen. An der nördlichen Grenze kam es bereits zu täglichen Schusswechseln.

Der Krieg im Libanon 2006 hat gezeigt, dass sich die Hisbollah eingegraben hat und sehr gut in der Lage ist, sich zu verteidigen. Seitdem hat sie durch den Kampf gegen ISIS in Syrien weitere Erfahrungen gesammelt. Weder Angriffe der US-Luftwaffe noch eine Invasion der Landstreitkräfte können die Hizbollah daran, hindern, ihre Raketen abzufeuern.

(Syrien und auch der Iran werden nicht in den Krieg eingreifen, es sei denn, sie werden direkt angegriffen.) Netanjahu muss Gaza angreifen, um die Abschreckung wiederherzustellen. Er kann den Gazastreifen nicht an­greifen, weil der Krieg in den Städten viele israelische Opfer fordern würde. Er kann Gaza nicht angreifen, weil die Hisbollah dann den Mythos des überlegenen Siedlerstaates noch mehr zerstören würde, als es die Hamas bisher getan hat.
Israel hat mit Hilfe der USA versucht, die Bevölkerung von Gaza nach Ägypten zu drängen. Vom ägyptischen Standpunkt aus wäre das eine humanitäre Lösung, zumindest solange andere dafür bezahlen. Aber es würde ein ernstes strategisches Problem verursachen. Der Widerstand der Hamas und anderer gegen Israel würde auf un­bestimmte Zeit weitergehen, aber Ägypten würde dafür verantwortlich gemacht werden. Diese Last kann und will es nicht auf sich nehmen.

Netanjahus nächste Idee war es, den Gazastreifen auszuhungern. Aber die Welt wird ihm das nicht erlauben. Zumindest nicht über einen bestimmten Punkt hinaus. Selbst der UN-Generalsekretär hat den Grenzübergang Rafah besucht. Andere globale Organisationen, wie die WHO und die ASEAN, haben sich zu Wort gemeldet. Die Bilder von hungernden Menschen werden es dem Westen unmöglich machen, diese "Lösung" zu unterstüt­zen.
In der Zwischenzeit werden die Hamas-Kämpfer weiterhin in ihren Tunneln sitzen, bereit, ihr Land zu verteidi­gen, und wahrscheinlich mit genügend Vorräten, um monatelang durchzuhalten.

Israelische Siedler randalieren mit Unterstützung der IDF im Westjordanland. Sie töten noch mehr Palästinen­ser und machen die Weltöffentlichkeit noch wütender gegen ihre Taten. Dies wird eskalieren.
Israels Entscheidungsfindung ist gelähmt. Es wird vorerst weiter von einer Bodeninvasion sprechen, aber keine Invasion starten. Es wird auch weiterhin den Gazastreifen aushungem.
Aber bald wird es zu einem Bruch kommen. Jede Minute könnte es eine neue große Gräueltat in Gaza oder ein Pogrom im Westjordanland geben. Jede Fehlkalkulation im Norden könnte diese Front in einen heißen Krieg stürzen. Die Hisbollah könnte beginnen, "präventiv" in Israel einzumarschieren.
Aber die jüdische Öffentlichkeit Israels verlangt immer noch nach einem Rachefeldzug. Es braucht immer noch die Wiederherstellung seiner Abschreckung und Überlegenheit.
Was aber, wenn sich dies als unmöglich erweist?
Nun. Dann muss sich etwas anderes ändern.

Wie Adam Shatz in der London Review of Books zusammenfasst:
Rachsüchtige Pathologien (archiviert)
Die unausweichliche Wahrheit ist, dass Israel den palästinensischen Widerstand nicht mit Gewalt auslöschen kann, genauso wenig wie die Palästinenser einen Befreiungskrieg nach algerischem Vorbild gewinnen können: Israelische Juden und palästinensische Araber müssen miteinander auskommen, es sei denn, Israel, die weitaus stärkere Partei, treibt die Palästinenser für immer ins Exil. Das Einzige, was die Menschen in Israel und Palästi­na retten und eine weitere Nakba verhindern kann - eine reale Möglichkeit, während ein weiterer Holocaust ei­ne traumatische Halluzination bleibt - ist eine politische Lösung, die beide als gleichberechtigte Bürger aner­kennt und ihnen ein Leben in Frieden und Freiheit ermöglicht, sei es in einem einzigen demokratischen Staat, in zwei Staaten oder in einer Föderation. Solange diese Lösung vermieden wird, sind eine weitere Verschlechte­rung und eine noch größere Katastrophe so gut wie garantiert.

Zwei interessante Kommemtare

Es ist offensichtlich, dass die Zwei-Staaten-Lösung nicht funktionieren wird.
Das Narrativ der Zweistaatenlösung kommt von zwei Gruppen: a) dem kollektiven Westen und b) Putin und Xi. Jede Gruppe hat ihr eigenes Dilemma, aber eines ist ihnen gemeinsam: Sie sind Anteilseigner des Erbes des Zweiten Weltkriegs: UNS’C und andere imperialistische Institutionen.

Aber es gibt einige umstrittene Bereiche des Erbes: IWF, Weltbank, $, Geo-Verwerfungslinien (Ukraine, Tai­wan, Korea, Palästina, Kaukasus, Sham, Kuba), usw.

Ein weiterer Aspekt des Ersten und Zweiten Weltkriegs war der Krieg zwischen dem Finanzimperialismus und dem Industrieimperialismus. Das ist der Grund, warum Russland und China an ihrem industriellen Erbe festhal­ten. Sie wollen nicht zulassen, dass ein neuer Spieler aufsteigt und in den Ring steigt. Ihr größtes Bestreben ist es, die Juden in Palästina zu halten, um eine Zweistaatenlösung für einen ewigen Krieg zu erreichen. Eine Zweistaatenlösung bedeutet einen souveränen Hamas-Staat mit Luftverteidigung, mehr und mehr Waffen, dann einen immer härteren Krieg und mehr und mehr Blutvergießen, einen permanenten Krieg, folglich weniger Druck auf die Ukraine, Taiwan, Korea und Wunden. Diese Dummköpfe glauben, sie könnten den Krieg auf Pa­lästina beschränken und würden nicht die ganze Region verschlingen. Sie glauben, dass sie schließlich vor den UN-Sicherheitsrat gehen und einen zahmen Dollar machen können.
Ali Khameni hingegen hat eine vernünftigere Lösung vorgeschlagen: Ein Staat, der Juden, Muslime und Christen einschließt, Rückkehr der Palästinenser im Exil, gleiches Stimmrecht für alle für das gesamte Land Palästina.

Zweiter Kommentar

Meine Befürchtung ist, dass die zionistischen Faschisten auf biologische und/oder chemische Kriegsführung zurückgreifen werden.Die letzten Jahre haben mehrfach gezeigt, dass beide Arten der Kriminalität entwickelt werden und dass die Im­perialisten keine Skrupel haben, beispielsweise mit Sarin-Gas zu experimentieren, vorausgesetzt, die Medien wurden gekauft, um jeden Aufschrei zu unterdrücken, und das ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Eine positive Entwicklung, über die aus dem Vereinigten Königreich berichtet wird, ist, dass die Proteste gegen den Völkermord groß sind und weiter zunehmen. Und sie umfassen Millionen von normalen Bürgern, von de­nen viele von der billigen Lüge aufwachen, dass Antizionismus Rassismus sei, und nicht das diametrale Gegen­teil. In Kanada wird die Nachricht von den Zeitungen unterdrückt, dass Trudeau gestern eine Moschee unter "Schande"-Rufen und Buhrufen verlassen musste.

Der moralische Kompass der Menschheit ist normalerweise recht zuverlässig, und die Öffentlichkeit beginnt, die imperialistische Propaganda zu durchschauen. Die Erkenntnis, dass weit mehr als vierzig palästinensische Babys enthauptet, verstümmelt, zerquetscht und auf andere Weise durch Bomben getötet wurden, die von Israe­lis abgeworfen, aber von Politikern "in unserem Namen" gebaut und bezahlt wurden, ist eine Wahrheit, die nur an Wirkung gewinnen wird.

Israels Dilemma ist mehr als nur strategisch. Und es ist mehr als Israels Dilemma.

 


 

Ingrid Rumpf: „Stoppt die Spirale der Gewalt im Nahen Osten!“
Kundgebung des AK Palästina TÜ
Freitag, 13.Oktober 2023, 16.30h, Holzmarkt Tübingen

Liebe KundgebungsteilnehmerInnen, liebe Freundinnen und Freunde, und da möchte ich insbesondere die anwesenden Palästinenserinnen und Palästinenser ansprechen!

Wir stehen hier heute weder an der Seite von Hamas, deren völkerrechtswidriges Vorgehen gegen israelische Zivilisten wir klar verurteilen. Wir stehen hier auch nicht an der Seite der Palästinensischen Autonomiebehörde, die es seit Jahren versäumt, sich wirkungsvoll für die Rechte des palästinensischen Volkes einzusetzen und Neuwahlen verhindert, weil sie um ihre Pfründe fürchtet. Wir stehen hier ausschließlich an der Seite der palästinensischen Zivilgesellschaft, die seit Jahrzehnten unter Besatzung, Entrechtung und Vertreibung leidet und in der sich unzählige PalästinenserInnen unermüdlich gewaltfrei für ihre Rechte auf ein Leben in Selbstbestimmung, Freiheit und Menschenwürde einsetzen. Wir sind erschüttert über den immer brutaleren Krieg um Gaza, der immer mehr zivile Opfer fordert. Und ja! Wir trauern auch um die vielen zivilen Opfer auf israelischer Seite!

Aber die fast ausschließliche Fokussierung in Politik und Medien vor allem in Deutschland auf das völkerrechtswidrige Vorgehen der Hamas finden wir unerträglich, auch wenn der Gewaltausbruch durch Hamas der Anlass für die immer weiter eskalierende Spirale der Gewalt ist war.

Aber eben der Anlass und nicht die Ursache! Das soll keinesfalls eine Rechtfertigung sein. Aber wer nur auf den Anlass starrt und die Ursachen komplett ausblendet, und das seit Jahrzehnten, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Doppelstandards anzuwenden. Der muss sich den Vorwurf von Ignoranz und völlig fehlender Empathie für die andere, nämlich die palästinensische Seite, gefallen lassen. Und der zeichnet letztlich mitverantwortlich für das sich ständig wiederholende Blutvergießen, dem schon tausende Menschen zum Opfer gefallen sind und weiter fallen werden.

Wo sind die deutschen Politikerinnen und Politiker, die sich mit Nachdruck für ein Ende der inzwischen 16 Jahre währenden völkerrechtswidrigen Blockade des Gaza-Streifens einsetzen? Eine Blockade, die mehr als 2 Millionen Menschen in einem über Land, Meer und Luftraum abgeriegelten Gefängnis halten, ohne ausreichende Versorgung und medizinische Hilfen. Von diesen 2 Millionen sind allein die Hälfte Kinder und Jugendliche, die in ihrem ganzen Leben nichts anderes kennengelernt haben als dieses Gefängnis und immer wieder entsetzliche militärische Angriffe. Jetzt wurde die gesamte Einfuhr von Wasser, Lebensmitteln und Treibstoff eingestellt. Das bedeutet, dass jedes zivile Leben erlischt, dass Krankenhäuser nicht mehr arbeiten können und die Menschen hungern, wenn sie nicht vorher Opfer der Bombenangriffe werden.

Wenn der israelische Verteidigungsminister Yoaf Gallant davon spricht, Israel müsse in Gaza gegen „menschliche Tiere kämpfen“, dann spricht daraus ein schockierendes rassistisches Menschenbild.

Wo sind die Stimmen der deutschen Politikerinnen und Politiker angesichts der tagtäglichen Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank? Allein in diesem Jahr sind bereits 600 Palästinenserinnen und Palästinenser in der Westbank bei brutalen Militäreinsätzen und Siedlerangriffen getötet worden!

Warum schweigen sie zu dem regelmäßigen nächtlichen Kidnappen von Kindern und Erwachsenen, die vielfach über Monate ohne Anklage in israelischen Gefängnissen gehalten werden?

Warum schweigen sie zu den Überfällen von israelischen Siedlern unter dem Schutz der israelischen Armee auf palästinensische Dörfer wie vor Wochen in Huwara, als Häuser und Autos in Brand gesteckt und die BewohnerInnen gejagt wurden?

Warum lassen sie keine Konsequenzen folgen angesichts des permanenten Raubes von palästinensischem Land, sei es für Straßen, die ausschließlich von Israelis befahren werden dürfen, sei es für den Mauerbau und erst recht für den Siedlungsbau für inzwischen 700.000 israelische Siedler in der Westbank und im annektierten Großraum Jerusalem?

Auf der anderen Seite werden die Palästinenser in der Westbank an hunderten militärischer Checkpoints, die nur mit willkürlich ausgestellten israelischen Genehmigungen passiert werden dürfen, in ihrem täglichen Leben systematisch schikaniert und gedemütigt.

Insbesondere der Siedlungsbau verbunden mit Enteignung und Vertreibung seiner palästinensischen Bevölkerung ist nicht einfach nur ein harmloses politisches Vergehen, sondern ein absolut völkerrechtswidriges Verhalten, das darauf abzielt, jede Friedensregelung von Grund auf zu torpedieren.

Warum schweigen Medien und Politik zu der unmissverständlich erklärten Botschaft der jetzigen israelischen Regierung, dass Judäa und Samaria, also die Westbank, rechtmäßiger Teil Israels sei?

So heißt es bereits im ersten Satz des Koalitionsvertrags der Regierung: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel […] – Galiläa, Negev, den Golan und Judäa und Samaria.“ Finanzminister Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, beide Siedler in der Westbank, plädieren offen für eine Annexion der Westbank und fordern den Transfer der Palästinenser aus dem Westjordanland und aus Israel(!) zum Beispiel nach Europa.

Smotrich rief schon 2021 den arabischen Abgeordneten in der Knesset zu, dass ihre Präsenz dort ein historischer Fehler des ersten Ministerpräsidenten Israels, David Ben Gurion, sei. Dieser habe „seinen Job nicht vollendet, die Palästinenser hinauszuwerfen“.

Im Januar 2018 sagte Smotrich in einem Interview mit dem Radiosender der israelischen Armee über die Palästinenser: „Das ist das Problem, wenn man es mit Mücken zu tun hat. Wenn man Mücken erschlägt, erwischt man vielleicht 99 von ihnen, aber die hundertste Mücke, die du nicht getötet hast, tötet dich. Die echte Lösung ist es, den Sumpf trockenzulegen.“

Das Regierungsmitglied Ben-Gvir wurde wegen seiner radikalen politischen Ansichten von vornherein aus dem israelischen Militärdienst ausgeschlossen, jetzt ist er für die Sicherheit in der Westbank verantwortlich.

Bezalel Smotrich ist Anfang des Jahres in den USA vor amerikanischen Politikern mit einer Landkarte von Großisrael aufgetreten, die nicht nur keinerlei palästinensische Gebiete mehr zeigte, dagegen gleich noch Jordanien umfasste. Kürzlich hat auch Netanjahu vor den Vereinten Nationen eine Landkarte präsentiert, in der keine palästinensischen Gebiete mehr vorkamen. Wie kann es sein, dass Politiker und Medien hier das nicht zur Kenntnis nehmen? Aber natürlich vernehmen die Palästinenserinnen und Palästinenser all dies mit großer Sorge und in großen Ängsten.
Auch die Behandlung der palästinensischen Nichtregierungsorganisationen durch die politisch Verantwortlichen in Israel macht deutlich, welche Ziele die israelische Politik verfolgt. Die Einstufung der sechs wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen im Oktober 2021 als terroristisch und die massive Behinderung ihrer unverzichtbaren Arbeit, zeigt, dass diese Politik einzig auf die Zerschlagung der palästinensischen Zivilgesellschaft zielt, um auch alle gewaltfreien Formen des Widerstands zu verunmöglichen. Auch in Deutschland wird den hier lebenden Palästinensern zunehmend die Möglichkeit genommen, für ihre legitimen Rechte einzutreten. So brandmarkt der Beschluss des Bundestages und vieler Landtage, die BDS-Kampagne als antisemitisch. Eine Kampagne, die 2005 von zahlreichen palästinensischen Gruppen als eines der wenigen Mittel des gewaltfreien Widerstands gegen die israelische Politik ins Leben gerufen wurde.

Der inflationäre Gebrauch des Antisemitismusvorwurfs in Zusammenhang mit Kritik an israelischer Politik geht allerdings weit über die BDS-Kampagne hinaus und stellt viele Formen von Information und Aufklärung über den Nahen Osten unter Antisemitismus-Verdacht. Das soll politisch Andersdenke ins politische Abseits befördern und sie zu Parias machen. Die politische Auseinandersetzung wird so vergiftet, die freie Meinungsbildung verhindert und die Demokratie beschädigt.

So wird nicht erst heute im 75. Jahr der Nakba, der Flucht und Vertreibung der PalästinenserInnen 1948, eine Wanderausstellung, die diese historischen Fakten sachlich und frei von jeglichen moralisierenden Schuldzuweisungen beschreibt und in der Öffentlichkeit bekannt machen möchte, von staatlicher Seite verunglimpft. Die Ausstellung wird unter der Überschrift „Israelfeindlichen Antisemitismus stoppen!“ im Antisemitismus-Bericht des Landes Baden-Württemberg genannt wird. Man höre und staune: noch im Jahr 2008 wurde die Erstellung dieser Ausstellung von der Stiftung Entwicklungs-Zusammenarbeit des Landes Baden-Württemberg höchstselbst finanziell gefördert. Und im Jahr 2013 hat das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg noch erklärt: "Die Ausstellung … stelle einen Beitrag dar, die unterschiedlichen Positionen zum Nahostkonflikt zu illustrieren und der Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu rufen."

Das wirklich Schlimme ist, dass diese nicht nur von staatlicher Seite betriebene Verunglimpfung, den Palästinenserinnen und Palästinensern jedes Recht auf ihre eigene Familiengeschichte und die ihres Volkes abspricht, sie im Gegenteil noch diffamiert und sie damit ihrer Identität beraubt und dieses die palästinensische Gesellschaft prägende Trauma mit Füßen tritt. Angesichts der tatsächlichen Lage vor Ort muss das unerträglich und zutiefst verletzend für die Betroffenen sein und muss vor allem bei jungen PalästinenserInnen Empörung und Wut hervorrufen. Dies muss sich zum Wohle aller schnellstens ändern!

Vor dem Hintergrund des immer brutaler werdenden Krieges um Gaza und der erschreckend wachsenden Opferzahlen möchte ich mit den Worten des amerikanisch-palästinensischen Autors, Verlegers und Musikers Michel Moushabeck schließen: „Der einzige Weg, um Blutvergießen, Gewalt und Tod endlich zu beenden, ist Freiheit und Gleichheit für alle! Das ist die einzige Lösung für diese seit 75 Jahren andauernde Tragödie!“

Ingrid Rumpf, für den AK Palästina Tübingen

Mit freundlicher Genehmigung von Frau Ingrid Rumpf  haben wir hier den ganzen Text ihrer Rede dargestellt. Alle Hervorhebungen im Text sind von ihr.

 


Walter van Rossum: Die Fälschung der Welt
In seinem Buch „The Great Weset. Alternativen in Medien und Recht“ erscheint dieser Artikel am Ende mit der Überschrift: „Alles in allem“.

Im März 2020 kollabierte die uns bekannte Realität — im Nachhinein möchte man fast sagen: binnen Stunden. Doch es gibt kein physikalisches Zeitmaß für diesen Kollaps. Es wurden ein paar sonderbare Imperative in die Welt gebellt — und die bekannte Ordnung ging in die Knie: der Rechtsstaat, die Wissenschaft, die Medizin, das argumentierende Begründen, die Aufklärung, die Wirtschaft und die Kunst. Noch bevor wir ein „Aber“ absetzen konnten, um unsere Einwände und Gegenrechnungen zu präsentieren, waren wir längst abgeschaltet von den Zugängen zur imperativen Welt. Aussortiert als Querdenker, Querulanten, Verschwörungstheoretiker und Staatsfeinde. 

Wir fanden uns wieder unter lauter Gleichgesinnten, die wir noch gar nicht kannten und wie Freunde begrüßten, weil wir mit ihnen reden konnten. Ehemals vertraute Menschen wandten sich von uns ab und wurden zu Kreuzzüglern der Imperative — unerreichbar in ihrem tiefen Glauben, aber stets mit gezücktem Schwert. Im Ghetto der Kritik versuchten wir, wieder zur Sprache zu finden, doch wir sprachen nur mit uns. Wann immer es mir gelang, einen der Gläubigen anzusprechen und zu fragen, welches Unwort ich denn ausgesprochen, welche verbotene Frage ich gestellt haben mag, um verbannt zu werden, wurde mir bestenfalls Spott zuteil, meistens aber zornige Verachtung. Im Großen und Ganzen ist es bis heute so geblieben. Die Fortsetzung des Pandemieterrors durch einen Krieg, der mit aller Macht eskaliert wurde, durch Inflation, eine dramatische ökonomische Destabilisierung und schließlich durch ein apokalyptisch aufgeladenes Management des Klimawandels hat diese Raumaufteilung eher verstärkt als gemildert. 

Im Laufe der Zeit ist uns aber allmählich klar geworden, dass die Probleme nicht Ende 2019 mit der Entdeckung einiger Fälle von „mysteriösen Lungenentzündungen“ in China begannen und auch nicht mit der Umsetzung der Maßnahmen. Paul Schreyer hat in seinem Buch Chronik einer angekündigten Krise die Vorgeschichte der pandemischen Machtergreifung erzählt. Und es bestehen kaum Zweifel, dass einige sehr reiche Persönlichkeiten und mächtige Institutionen weitreichende Vorbereitungen getroffen hatten, die Dinge in eine bestimmte Richtung zu lenken. Gleichwohl erklärt das aber höchstens die halbe Geschichte. 

Eine entscheidende Frage bleibt offen: Wie ist es möglich, dass eine halbwegs leicht zu enttarnende Bedrohung in die Welt gesetzt wird und die hochkomplexe, äußerst differenzierte abendländische Zivilisation daraufhin ihren Dienst einstellt? 

Als wäre sie nur ein leichtes Seidenjäckchen gewesen, ein hauchdünner ideologischer Firnis? So gut wie alles hat sich den Bedürfnissen der Imperative unterworfen. Darauf gibt es nur eine Antwort: Da war nichts, nichts Nennenswertes jedenfalls. Unsere kulturellen Errungenschaften, die zivilisatorischen Prinzipien, die Bestände bewährten Wissens — nichts davon konnte oder wollte sich den Dampfwalzen der Imperative entgegenstellen. 

Und im Laufe der Zeit haben wir die Leere in uns selbst entdeckt. Wir hatten seit Langem bei diesem Budenzauber mitgespielt. Wir hatten uns arrangiert. Wie aber konnten wir glauben, die Abwesenheit eines Potentaten und das Recht, alle paar Jahre irgendwelche abgebrühten Typen wählen zu dürfen, das wäre Demokratie? Der US-amerikanische Schriftsteller Gore Vidal nannte die amerikanische Demokratie „ein Zweiparteien-System mit zwei rechten Flügeln“. Wer verstehen wollte, wie diese Demokratie in Wirklichkeit funktionierte, der schaute sich die ebenfalls US-amerikanische Serie House of Cards an. 

Diese Entlarvung des Betrugs war uns genug. Damit konnte man irgendwie leben. Wenn die Vereinigten Staaten mal wieder das Napalm der Freiheit über ein paar ungezogene Staaten ausgossen, protestierten wir laut und routiniert, wir schrieben kritische Bücher und Beiträge, die klipp und klar das Ausmaß der Schweinerei darlegten. Bis vor 20 Jahren stellte das öffentlich-rechtliche Fernsehen uns sogar Sendezeit für die Rituale der Kritik zur Verfügung. Das war der Pluralismus, der uns Gehör verschaffte, womit wir uns zufrieden gegeben haben. 

Edward Snowden enthüllte 2013 das globale Abhörsystem des US-amerikanischen Geheimdiensts NSA, die Infrastruktur einer planetarischen Tyrannei. Von Kindesbeinen an hatten wir gelernt, dass dergleichen der Anfang vom Ende sei. Es gab damals für kurze Zeit eine gewisse mediale Aufregung, die sich hauptsächlich am abgehörten Handy der Kanzlerin entzündete. Einige beschlossen, nur noch via Proxy-Server ins Netz zu gehen, bis das zu umständlich wurde. Danach lebten wir weiter, als wären wir einfach zu uninteressant für die Machenschaften der NSA. 

Wir waren stets frei und doch in Ketten. Wir haben improvisiert. Manches sah aus, als sei es gelungen. Wir waren stets unter Strom, und gelegentlich erwischten wir uns bei dem Versuch zu begreifen, was wir eigentlich wollten. In der Regel lebten wir als Gast unseres Lebens, das seinen Weg nahm. Hunderte von großartigen Romanen, Abhandlungen, Filmen und Gemälden reflektierten unsere Unbehaustheit. Von Zeit zu Zeit besichtigten wir das klirrend Existenzielle, Die Fälschung der Welt (William Gaddis), der wir entkamen, indem wir wieder in den Lärm vermeintlich überschaubarer Zweck-Mittel-Operationen eintauchten. Das waren die sogenannten Bildungserlebnisse. 
Nichts stimmte. Doch unser Misstrauen war zu unartikuliert, zu flüchtig, um einer Zivilisation zu entsagen, die irgendwie zu funktionieren schien und dabei unaufhörlich Übermenschliches produzierte, die Herzen verpflanzen konnte und Raketen auf lichtjahrelange Reisen ins All schoss, wo sie schließlich auf einem winzigen eisigen Gesteinsbrocken punktgenau landeten. Unsere Zweifel verschwanden im grandiosen Spektakel des Realen. Unverbindliche Vorbehaltsklauseln im Exil des Inneren.

Ich höre den Realisten belustigt fragen: „Ginge es nicht was kleiner? Können wir nicht einfach über ein paar Reparaturen sprechen?“ Leider eben nicht. Die imperative Welt diskutiert nicht. Und insofern bleibt nichts Geringeres als das Ganze. 

Damit will ich auf zweierlei hinweisen. Da die Zivilisation uns nur leicht bekleidete und meist als Mittel zum Zweck diente, konnte sie im Zeichen pandemischen Notstands ohne große Umstände abgestreift werden. Vielleicht sind so viele Menschen den Imperativen der Pandemiker so leichtgläubig gefolgt, weil Befehle in ihren Ohren wie Sirenengesang klangen: Orientierung. Eindeutigkeit. Wie lange hatte man sie schon vermisst. Wen interessierten die juristischen Spitzfindigkeiten der Verfassung, wenn es doch ums Überleben ging? Was sollten die umständlichen Prozeduren der Impfstoffzulassung, wenn man doch Menschenleben retten wollte? 

Der zweite Punkt betrifft die Ausweitung der Kampfzone. Wenn das Ganze das Falsche ist, dann müssen wir das Ganze ins Visier nehmen. Niemand wird glauben, wenn wir zum Grundgesetz zurückkehren, wird der alte Rechtsstaat wieder funktionieren. Niemand wird glauben, wenn die notorisch lügenden Professoren entmachtet sind, könne man wieder der Wissenschaft vertrauen. Und wenn all die Verbrechen rund um die Impfstoffe vor Gericht verhandelt worden sind, dann wäre der Gerechtigkeit Genüge getan. 

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Thomas Röper: Der Sieger im Streit zwischen Armenien und Aserbaidschan sind die USA

(...)

Die Interessen der USA
RAND hat in seiner Studie von 2019 die Ziele und Interessen der USA klar benannt. Russland sollte unter anderem durch Konflikte an seinen Grenzen geschwächt werden, außerdem sollten Staaten, die gute Beziehungen zu Russland haben, auf die Seite des Westens gezogen werden. Im Südkaukasus geht es dabei um Georgien, das zwar grundsätzlich pro-westlich ist, aber eine pragmatische Regierung hat, die sich weigert, sich den Russland-Sanktionen anzuschließen, weil Georgiens Wirtschaft das nicht überleben würde.

Außerdem liegen die zerstrittenen Länder Armenien und Aserbaidschan im Südkaukasus. Armenien hat traditionell gute Beziehungen zu Russland und ist auch Teil der OVKS, das ist das Verteidigungsbündnis, in dem sich einige GUS-Staaten zusammengeschlossen haben. Aserbaidschan hat zwar auch gute Beziehungen zu Russland, steht der Türkei aber bedeutend näher, schon weil Türken und Aserbaidschaner eng verwandte, einander sehr ähnliche Sprachen sprechen.

Die USA standen also vor der Frage, welches der beiden Länder, Armenien oder Aserbaidschan, die USA (oder der Westen) auf ihre Seite ziehen sollten. Das hat RAND 2019 auch genauso geschrieben, denn in der Studie stand zu lesen:

„Die USA könnten Russland im Kaukasus auf zweierlei Weise überdehnen. Erstens könnten die USA auf eine engere NATO-Beziehung zu Georgien und Aserbaidschan drängen, was Russland wahrscheinlich dazu veranlassen würde, seine militärische Präsenz in Südossetien, Abchasien, Armenien und Südrussland zu verstärken.

Alternativ dazu könnten die USA versuchen, Armenien zum Bruch mit Russland zu bewegen. Obwohl Armenien ein langjähriger Partner Russlands ist, hat es auch Beziehungen zum Westen aufgebaut: Es stellt Truppen für die von der NATO geführten Operationen in Afghanistan zur Verfügung, ist Mitglied der NATO-Partnerschaft für den Frieden und hat sich kürzlich bereit erklärt, seine politischen Beziehungen zur EU zu stärken. Die USA könnten versuchen, Armenien zu ermutigen, sich vollständig in den Orbit der NATO zu begeben. Sollten die Vereinigten Staaten mit dieser Politik Erfolg haben, könnte Russland gezwungen sein, sich von seinem Armeestützpunkt in Gjumri und einem Armee- und Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von Eriwan (der derzeit bis 2044 gepachtet ist) zurückzuziehen und noch mehr Ressourcen in seinen südlichen Militärbezirk umzuleiten.“

Dem kann man entnehmen, dass es für die USA sehr viel interessanter war, „Armenien zum Bruch mit Russland zu bewegen“, weil man Russland damit einen Verbündeten nehmen könnte.

Damit kommen wir zu der Frage, wie man das anstellen kann.

Was dann geschah
Seit 2018 regiert Nikol Paschinjan Armenien als Premierminister. Er war immer pro-westlich, scheute aber deutliche anti-russische Schritte. In seiner Zeit als Oppositionspolitiker war er einer der wenigen, die den Beitritt Armeniens zur Eurasischen Wirtschaftsunion mit Russland ablehnten. 2018 betonte er jedoch, als Premierminister keine geopolitischen Veränderungen anzustreben, er wolle enge Beziehungen sowohl zu Russland als auch zur EU, mit der Armenien durch die Östliche Partnerschaft verbunden ist.

Das ist natürlich auf Dauer unmöglich, denn der Westen stellt alle seine „Partner“ über kurz oder lang vor die Wahl, ob sie sich dem Westen anschließen, oder gute Beziehungen mit Russland (oder auch China) haben möchten. Das Beispiel der Ukraine, die unter Präsident Janukowitsch einen ähnlichen Kurs wie Paschinjan gefahren ist, hat das gezeigt, als Janukowitsch als Strafe dafür mit freundlicher Unterstützung des Westens vom Maidan weggeputscht wurde.

Als Aserbaidschan 2020 Bergkarabach angegriffen und große Teile von Bergkarabach erobert hat, hat Paschinjan Russland und die OVKS beschuldigt, den Verbündeten Armenien im Stich gelassen zu haben, und angefangen, mit den USA und der NATO zu flirten. Paschinjans Vorwürfe an Russland und die OVKS waren haltlos, denn Aserbaidschan hat nicht Armenien angegriffen, sondern die von niemandem – auch von Armenien nicht – anerkannte Republik Bergkarabach. Die OVKS und Russland waren daher, grob gesagt, nicht zuständig, denn Armenien wurde nicht angegriffen, es lag also kein Verteidigungsfall vor.

Das störte aber Paschinjan nicht, der mehr oder weniger unterschwellig Russland beschuldigt und so begonnen hat, in Armenien eine anti-russische Stimmung zu schüren.

Präsident Putin ist es gelungen, die Kampfhandlungen 2020 auf diplomatischem Wege zu beenden und ein Abkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan auszuhandeln, das die Frage des Status von Bergkarabach auf später vertagte. Russland war wichtig, dass es dort friedlich blieb und dass die Bergkarabach-Frage irgendwann einvernehmlich geklärt wird. Dafür, dass es friedlich blieb, wurden russische Friedenstruppen entsandt, die allerdings nur das sehr schwache Mandat hatten, den Waffenstillstand zu beobachten. Eingreifen durften sie in etwaige Kampfhandlungen nicht.

Der ideale Zeitpunkt
Aus geopolitischer Sicht war das ein idealer Zeitpunkt für die USA, um aktiv zu werden. Aus Sicht der USA war es nötig, die anti-russische Stimmung in Armenien zu verstärken, um „Armenien zum Bruch mit Russland zu bewegen“, wie RAND es formuliert hat. Was würde sich dazu besser eignen, als Aserbaidschan dazu zu bringen, in Bergkarabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, vollendete Tatsachen zu schaffen?

Russland würde auch dieses Mal tatenlos zusehen, weil es keinen Vorwand hat, einzugreifen, selbst wenn es das wollte. Die russischen Friedenstruppen wären aufgrund ihres Mandates dazu verdammt, als Statisten zuzuschauen und Paschinjan könnte ein weiteres Mal Russland beschuldigen, Armenien im Stich gelassen zu haben.
Das wäre aus Sicht der USA die ideale Entwicklung gewesen, damit Paschinjan anschließend mit Russland brechen und sich der NATO annähern könnte.

Alles nur Zufall?
Zufall oder nicht, aber genau so ist es dann gekommen, wobei die USA ihre Hände in Unschuld waschen können.

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Dagmar Henn: Ausforschung politischer Gegner: Die Sonnenblumenpartei und ihre finsteren Agenten

Ich hatte vor längerer Zeit schon einmal einen Artikel verfasst, in dem es um die Tätigkeit unter anderem der Amadeu Antonio Stiftung ging und in dem ich die These aufstellte, es handele sich dabei um eine Art Geheimdienst, der im Auftrag und Interesse vor allem der grünen Partei agiert. Was einem durchaus Angst machen sollte. Nicht nur, weil die Ausforschung einzelner Personen die Grenze zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit klar überschreitet, sondern auch, weil ein unter der Kontrolle einer Partei stehender Geheimdienst, dessen Hauptbeschäftigung in der persönlichen Schädigung politischer Gegner besteht, in der deutschen Geschichte bestenfalls einmal existiert hat, nämlich zwischen 1933 und 1945.

Wenn man daran denkt, dass der Sicherheitsdienst, den die KPD hatte, einer der Gründe war, die im Verbotsurteil von 1956 stehen, müsste die Existenz solcher Strukturen eigentlich Konsequenzen für die Grünen haben. Dabei war diese Tätigkeit in der KPD nach innen gerichtet, nicht nach außen, und sollte vor allem dafür sorgen, dass die Partei nicht unterwandert wurde – eine Befürchtung, die durchaus begründet war, wenn man sich die Entwicklung solcher Organisationen wie der VVN und der DFG/VK in den letzten Jahren ansieht. Der politische Gegner war für die KPD das Ziel politischer Arbeit.

Der Bericht des Bloggers Hardmut Danisch über die Ergebnisse seiner Akteneinsicht in das inhaltlich gesehen lächerliche Strafverfahren, das gegen ihn eröffnet wurde, weil er Ricarda Lang in einem Beitrag "dick" genannt hatte, macht nun sichtbar, dass sowohl Umfang als auch Vernetzung dieser Geheimdiensttätigkeit wesentlich weitergehen, als bisher bekannt war. Er erklärt auch, warum sich in jüngster Zeit beispielsweise Kontenkündigungen zu einer wahren Seuche entwickelt haben – der aktuelle Stand etwa des Vereins Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe und seiner Vorsitzenden, die im ersten Artikel zum grünen Geheimdienst das Beispiel lieferten, ist bei sechs Kontenkündigungen im Verlauf von neun Monaten.

In Großbritannien wurde jüngst die Kündigung des Kontos von Nigel Farage zum Politikum. Farage allerdings ist dort nicht nur ein bekannter Politiker, er ist zudem ziemlich wohlhabend; sein Konto war bei einer Privatbank für Millionäre, weshalb es für die Bank weitaus schädlicher war, dass dieses Vorgehen bekannt wurde, als es für die Sparkasse Hintertupfing wäre, wenn sie Otto Normalverbraucher das Konto kündigt. In Deutschland läuft diese Welle von Kontenkündigungen, ohne dass ihr große Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Danisch machte nun sichtbar, wie die Verfahrensweise dabei ist. In seinem Fall führten die Ermittlungen wegen einer Lappalie nicht nur zur Aktivierung der Staatsschutzabteilung der Berliner Polizei, sondern auch zu einer Kontenabfrage durch das Berliner Landeskriminalamt. Warum schon dieses Ansinnen eigentlich illegal war, führt Danisch in seinem Blog mit allen juristischen Details aus. Für die politische Bewertung sind zwei Punkte relevant: zum einen, dass die Abfrage darauf abzielte, Namen und Adressen der Spender zu erhalten, die den Blog finanzieren, und zum anderen, dass der Anstoß zu dieser Abfrage von einer Unterabteilung des grünen Geheimdienstes kam, die CeMAS heißt.

CeMAS ist mit der Amadeu Antonio Stiftung verknüpft und veröffentlichte im September einen Bericht, in dem es um "rechtsextreme Spendenfinanzierung" geht. Auf ihrem X-Account (ehemals Twitter) gibt diese Institution selbst an, welchen Umfang ihre Tätigkeit hat:

Für den Bericht wurden mehr als 1.297.000 Nachrichten aus dem Zeitraum von September 2016 bis Mai 2023 aus 419 deutschsprachigen rechtsextremen Telegramkanälen analysiert, um ein detailliertes Bild der Finanzierungsmechanismen zu erstellen.
— CeMAS (@cemas_io) September 11, 2023

Eine gehörige Fleißarbeit, nicht wahr? Aber das klingt schließlich nicht böse, es geht ja um "rechtsextreme Spendenfinanzierung". Zumindest, solange man völlig ignoriert, womit man sich mittlerweile alles die Bezeichnung "rechtsextrem" einfangen kann.

Ich erinnere mich gut an ein Treffen vor etwa sieben Jahren in Berlin, auf dem eine ziemlich breit gestreute Gruppe linker Altkader versammelt war, alle mit langjähriger Organisationserfahrung. Ein Nachkömmling in der Diskussion klagte darüber, er sei jüngst als Nazi bezeichnet worden; die Reaktion der Gruppe war nur: "Willkommen im Club."
Ausgangspunkt dieser völlig irrational scheinenden Entwicklung, die selbst aus dem gestandenen Kommunisten noch einen Rechten macht, war die Bewegung der Antideutschen, die Anfang dieses Jahrtausends die gesamte Antifa-Szene kaperte. Damit begann die wundersame Vermehrung der Rechten; was anfänglich nur auf exotischeren Portalen wie Indymedia stattfand. Inzwischen sind Vertreter dieser Gruppierungen bis in die staatlichen Organe vorgedrungen und haben sich eine solide Finanzierung aus staatlichen Mitteln verschafft, wie beispielsweise die Amadeu Antonio Stiftung samt ihren Ablegern.

"Rechts" ist mittlerweile schlicht alles, was den aktuellen politischen Vorgaben aus irgendeinem Grund und in irgendeinem Aspekt widerspricht. Man muss niemandem in Deutschland mehr die Begriffe einzeln vorbeten, die dabei zur Kennzeichnung genutzt werden, Putintroll, Klimaleugner oder Covidiot. Wer auch immer von einem solchen Begriff getroffen wird, ist selbstverständlich gleichzeitig "Rechts", gleich, ob der Ausgangspunkt nun ein Bürgerrechtsdiskurs ist, Zweifel an der Gelddruckerei der Vereinigten Staaten oder eine Ablehnung eigenartiger Pronomen.

Das Problem dabei: was immer von dieser Truppe als "Rechts" bezeichnet wird, wird auch zum Objekt der Ausforschung. CeMas ist die Abteilung, die sich der Aufgabe widmet, Konten aufzuspüren und dann die Sabotage der finanziellen Verbindungen einzuleiten, gegebenenfalls, wie im Falle Danisch, unter Zuhilfenahme eines Landeskriminalamts. Der Grund, warum diese nicht anders denn als politische Verfolgungen zu bezeichnenden Maßnahmen bisher weitgehend außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung stattfinden, liegt nicht nur daran, dass große Teile der Leitmedien diesem Denken sehr nahe stehen; es liegt auch daran, dass sich die Dichte solcher Verfolgungsschritte regional stark unterscheidet, was ein Hinweis darauf ist, dass die Durchdringungstiefe des staatlichen Apparats ungleichmäßig verteilt ist.

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