Lesefrüchte
Oktober 2024
Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind und zitieren Auszüge. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.
Lesefrüchte im vergangenen Monat
Charles Eisenstein: Schattierungen verschiedenster Farben
M. K. Bhadrakumar: Russland verbündet sich mit dem Iran, die Kriegswolken zerstreuen sich
Charles Eisenstein: Schattierungen verschiedenster Farben
Auszüge aus dem ersten Drittel des Artikels
Seit Robert F. Kennedy Jr. bekanntgab, dass er seine Präsidentschaftskampagne abbricht, um Donald Trump zu unterstützen, habe ich viele Bitten, Forderungen und Anfragen erhalten, meine Meinung zu seiner Entscheidung kundzutun.
Ich war in den Entscheidungsprozess eingeweiht. Zahllose Menschen kamen mit leidenschaftlichen, überzeugenden und widersprüchlichen Ratschlägen auf Bobby und seinen engeren Kreis zu. Viele hatten den Eindruck, dass ihre Einsichten dem Kandidaten irgendwie entgangen sein müssten. Lass mich also die beiden Hauptargumente herausfiltern und daraus mit ein, zwei weiteren Zutaten einen Trank zusammenbrauen, der vielleicht die polarisierenden Leidenschaften besänftigen kann, die Bobbys Entscheidung ausgelöst hat. Aber ich warne dich, manche der Zutaten könnten Schwindel erregen und Übelkeit verursachen.
Die Versuchung ist da, vorab zu signalisieren, welches dieser beiden Argumente, die ich gleich vorstellen werde, ich bevorzuge. So könnte ich das Clubhouse-Passwort vorzeigen, das wenigstens der Hälfte meiner Leserschaft signalisiert, dass ich immer noch ein akzeptabler Mensch bin, der nicht zur dunklen Seite hinübergewechselt ist und alle Normen des menschlichen Anstands über Bord geworfen hat. Also werde ich versuchen, undurchschaubar zu bleiben, während ich jedes Argument für sich so wohlwollend darstelle wie irgend möglich.
(...)
Als Kennedy schließlich seine Entscheidung bekanntgab, Donald Trump zu unterstützen, waren all jene, die wollten, dass er den Wahlkampf fortführe, bestürzt und fassungslos. Dutzende oder Hunderte kontaktierten mich auf der Suche nach einer Erklärung oder um mir ihr Mitgefühl zu bekunden. „Wie geht es dir?“ „Alles okay bei dir?“
Viele dieser Nachrichten waren zweifellos ehrlich gemeint. Die Leute wollten wirklich wissen, ob es mir gut ging. Doch in den hunderten von Nachrichten fand ich auch einen Subtext – oder glaubte, ihn zu finden. Die implizite Frage lautete: „Bist du zur dunklen Seite übergewechselt?“
Die Frage, auf welcher Seite ich stehe – ob ich womöglich zur MAGA-Bewegung (Make America Great Again-Bewegung) „übergelaufen“ bin – weckt in mir eine Urangst. Die Frage kann nicht beantwortet werden, indem man die relativen Vorzüge von Trumps Politik im Vergleich zu den Vorzügen der Politik von Kamala Harris diskutiert. Gefragt wird: Bist du einer von Uns oder einer von Denen? Kann man dich als Mitglied der Gesellschaft – meiner Gesellschaft – akzeptieren? Denn, lieber Charles, deine Nähe zu den Unberührbaren macht dich nun auch unberührbar, es sei denn, du reinigst dich von ihrem Makel, indem du die notwendigen Waschungen vornimmst. Die implizite Aufforderung an mich lautet also, Donald Trump und Kennedys Bündnis mit ihm eindeutig zu desavouieren, zu verurteilen und abzulehnen. Dann werde ich wieder als Mitglied der Gesellschaft akzeptiert sein.
Eine maßvolle Bewertung der Fehler und Vorzüge Trumps oder der Leute um ihn herum oder der möglichen, positiven und negativen, Auswirkungen seiner Amtszeit verstößt gegen die Anforderungen des Reinigungsrituals. Man muss ihn „othern“ – ihn als „fremdartig“ markieren. Man muss ihn aus dem Kreis seiner „Verbindungen“ ausstoßen. Zu welcher Gruppe gehörst du?
Dies ist eine anzestrale [stammesgeschichtlich] und erschreckende soziale Kraft. Wenn eine Hexenjagd stattfindet, sollte man keine freundschaftlichen Beziehungen zu einer Hexe pflegen und auch nicht zu einem der ihren. Man muss sich schützen, indem man die Hexerei lauthals verurteilt oder, besser noch, indem man sich der Hexenjagd anschließt. Als die Kommunisten gejagt wurden, musste man darauf achten, keine Verbindungen zu jemandem einzugehen, der im Verdacht stand, einer zu sein, oder man galt als „Sympathisant“.
Die gegenwärtige Situation gleicht nicht ganz einer Hexenjagd, denn das Trump-Lager ist keine kleine oder machtlose Minderheit. In Zeiten von Stress wenden sich Gesellschaften immer einem Sündenbock oder einer Sündenbockklasse zu, um sie für ihre Probleme verantwortlich zu machen und die Gesellschaft in einer blutigen Säuberungsaktion zu vereinen. Damit die Sündenbockklasse ein geeignetes Gefäß für die Angst und Wut der Gesellschaft ist, muss sie marginal und relativ machtlos sein. Dann kann die Hexenjagd, der Lynchmord, das Pogrom seine Opfer fordern, ohne einen Bürgerkrieg auszulösen.
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Je spaltender, herablassender, hasserfüllter, hetzerischer die politische Rhetorik, desto mehr stecken wir den Rahmen für diese Ergebnisse. Ein Reizgas strömt sowohl aus der rechten als auch der linken Herdflamme. Sein Gestank füllt das Haus. Und diese Wahlen werden mit Sicherheit reichlich Funken erzeugen. Deshalb weigere ich mich, mich am Distanzierungs- und Verurteilungsspiel zu beteiligen.
Zum ersten Mal bekam ich die Hitze dieses Dramas um 2018 herum zu spüren, als ich bei Russell Brands Podcast zu Gast war. Wenig später hatte Russell Jordan Peterson zu Gast. Also war ich auf derselben Plattform wie Jordan Peterson. Bald erhielt ich E-Mails mit der Forderung, mich von Russell Brand „zu distanzieren“ und seine Verbindung zu Peterson zu verurteilen. Die angesagten Kids hatten verkündet, dass Jordan Peterson Läuse hat. Daher hatte Russell Brand ebenfalls Läuse, und ich würde sie auch bekommen, wenn ich mich nicht distanzierte.
Was bedeutet das – „sich distanzieren“? Es bedeutet, das dämonisierte Subjekt des Volkszorns rituell zu verurteilen. Ich bin mir sicher, viele meiner Leser würden sich jetzt wohler fühlen, wenn ich diesen Essay mit einer rituellen Verurteilung von Donald Trump begonnen hätte. Und einige von euch durchleuchten jedes meiner Worte, um wenigstens einen Ansatz von Spott, ein subtiles Signal zu entdecken, das ihnen zusichert, dass ich auf der richtigen Seite von Anstand und Tugend stehe, um die schreckliche Vermutung, ich könnte – da ich ein enger Berater und Redenschreiber von RFK Jr. war – meine Fähigkeiten, meine Unterstützung, meinen Rückhalt Donald Trump zur Verfügung stellen. Ein anderer Teil meiner Leserschaft wäre begeistert, wenn das der Fall wäre. Aber wenn das der Fokus deines prüfenden Blickes ist, wird meine Botschaft an dir unbemerkt vorübergehen.
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PDF-Sicherung des Artikels: hier
M. K. Bhadrakumar: Russland verbündet sich mit dem Iran, die Kriegswolken zerstreuen sich
Vorwort von den Betreibern des Blogs Seniora.org:
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, liebe Freunde,
diese wichtige Nachricht sollte nun wirklich von allen Medien – ob Mainstream oder sozial oder unabhängig – übernommen werden. Wir denken, dass es hier um einen
Friedens-Meilenstein in der aktuellen brandgefährlichen Gefahrensituation zu einem Nuklearkrieg im Nahen Osten handelt. Es scheint, dass der Weg zum Frieden in der Welt vorläufig (noch) nur durch das Gleichgewicht der Kräfte garantiert werden kann. Leider. Ein Weg zu einer friedlichen, mitmenschlichen, sozialen Zusammenarbeit aller Völker mit dem schönen Ziel «Wohlstand für Alle» mittels gesundem Menschenverstand und Diplomatie bleibt der psychologischen Wissenschaft vorbehalten. Daran arbeiten meine Frau und ich mit seniora.org seit Jahren.
Herzlich Margot und Willy Wahl
Israel hat offenbar seinen geplanten Angriff auf den Iran auf Eis gelegt. Dieser Rückzug ist auf eine Kombination von Umständen zurückzuführen, die Israels eigene hochtrabende Rhetorik, man sei bereit zum Losschlagen, Lügen straft.
Trotz Israels brillantem Medienmanagement sind Berichte aufgetaucht, dass der iranische Raketenangriff am 1. Oktober ein spektakulärer Erfolg war. Es war eine Demonstration der Abschreckungsfähigkeit des Iran, Israel, wenn nötig, zu vernichten. Die Unfähigkeit der USA, iranische Hyperschallraketen abzufangen, hatte seine eigene Botschaft. Der Iran behauptet, dass 90 Prozent seiner Raketen das israelische Luftverteidigungssystem durchdrungen haben.
Will Schryver, ein technischer Ingenieur und Sicherheitskommentator, schrieb auf X: „Ich verstehe nicht, wie jemand, der die vielen Videoclips der iranischen Raketenangriffe auf Israel gesehen hat, nicht erkennen und anerkennen kann, dass es sich um eine beeindruckende Demonstration der iranischen Fähigkeiten handelte. Die ballistischen Raketen des Iran durchbrachen die US-amerikanische/israelische Luftabwehr und trafen mehrere israelische Militärziele mit großen Sprengköpfen.“
Offensichtlich gab es in der darauf folgenden Paniksituation in Israel, wie der US-Präsident Joe Biden es ausdrückte, am 4. Oktober noch keine Entscheidung darüber, welche Art von Reaktion Israel gegen den Iran ergreifen sollte. „Wenn ich an ihrer [israelischen] Stelle wäre, würde ich über andere Alternativen nachdenken als den Angriff auf Ölfelder“, sagte Biden bei einem seiner seltenen Auftritte im Briefing-Raum des Weißen Hauses, einen Tag nachdem israelische Beamte erklärt hatten, dass eine „bedeutende Vergeltungsmaßnahme“ unmittelbar bevorstehe.
Biden fügte hinzu, dass die Israelis „noch nicht entschieden haben, wie sie – was sie tun werden“ als Vergeltung. Biden sagte Reportern auch, dass der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu bei der Entscheidung über die nächsten Schritte an die Unterstützung der USA für Israel denken sollte. Er behauptete, dass er versuche, die Welt zu mobilisieren, um einen umfassenden Krieg in Westasien zu vermeiden.
In dieser Pantomime ist es sicherer, Biden zu glauben, denn die ehrliche Wahrheit ist, dass Israel ohne die Beiträge und die praktische Hilfe der USA sowie deren Geld und direkte Intervention einfach nicht die Kraft hat, es mit dem Iran aufzunehmen. Israels regionale Dominanz beschränkt sich auf die Durchführung von Mordanschlägen und Angriffe auf unbewaffnete Zivilisten.
Aber auch hier ist fraglich, wie autark Israel gegenüber dem Iran ist. Berichten zufolge haben die neuen technologischen Erkenntnisse der USA den Aufenthaltsort des Hisbollah-Führers Sayyed Nasrallah lokalisiert, der an Israel weitergegeben wurde, was zu dessen Ermordung führte.
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Was die Israelis jedoch abschreckt und die Amerikaner beunruhigt, ist etwas anderes – Russlands immer länger werdende Schatten auf dem westasiatischen Teppich.
Amerikanische Militäranalysten haben bekannt gegeben, dass in den letzten Wochen bestimmte hochmoderne russische Waffen an den Iran übergeben wurden, unterstützt durch die Entsendung von russischem Militärpersonal zur Bedienung dieser Systeme, darunter S‑400‑Raketen. Es wird spekuliert, dass der Sekretär des russischen Sicherheitsrates (ehemaliger Verteidigungsminister) Sergei Shoigu in jüngster Zeit zwei geheime Besuche im Iran durchgeführt hat.
Offenbar hat Moskau auch auf die iranische Anfrage nach Satellitendaten für Ziele in Israel für den Raketenangriff am 1. Oktober reagiert. Russland hat den Iran auch mit dem elektronischen Langstrecken-Kriegsführungssystem „Murmansk-BN“ beliefert.
Das „Murmansk-BN“-System ist ein leistungsstarkes EW-System [EW = Electronic Warfare], das feindliche Funksignale, GPS, Kommunikationssysteme, Satelliten und andere elektronische Systeme in einer Entfernung von bis zu 5.000 km stören und abfangen, „intelligente“ Munition und Drohnensysteme neutralisieren und hochfrequente Satellitenkommunikationssysteme der USA und der NATO stören kann.
Die russische Beteiligung an der Konfrontation zwischen dem Iran und Israel könnte das Blatt wenden. Aus Sicht der USA wird dadurch das beunruhigende Szenario einer direkten Konfrontation mit Russland heraufbeschworen, die sie nicht wollen.
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