Lesefrüchte
November 2025
Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind und zitieren Auszüge. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.
Lesefrüchte im vergangenen Monat
Paul Schreyer: Wie die Nato nach Osten aufbrach
Axel Klopprogge: Mani lebt!
Opablog: Warum die Russen nicht bei uns einmarschieren
wollen
Günther Burbach: Das neue Normal: Dauerkrise als Regierungsstil
Dominik Pietzcker: Europa ohne Kompass: Wie ein Kontinent seine Zukunft verspielt
Jochen Mitschka: Qualitäts-Fake-News erkennen
Wolfgang Bittner: Ist Deutschland souverän? Kann Deutschland neutral werden?
Paul Schreyer: Wie die Nato nach Osten aufbrach
Die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft schreitet mit großen Schritten voran. Die gesamte Politik scheint nur noch eine Richtung zu kennen: Rüsten gegen Russland, die Ostflanke stärken, den Feind abwehren. Was hat diese Dynamik in Gang gesetzt? Eine Recherche zeigt: Es war die Rüstungsbranche selbst, die in der ersten Amtszeit von US-Präsident Clinton den Anstoß gab, nach Osten vorzurücken. Zeit, sich daran zu erinnern.
Man schrieb das Jahr 1996 und Zbigniew Brzezinski wusste, wie er sein Anliegen am besten vorzutragen hatte. Er nahm den damaligen Präsidenten Bill Clinton vertraulich beiseite. Der stand mitten im Wahlkampf, seine Wiederwahl war höchst unsicher und Brzezinski, Ex-US-Sicherheitsberater, Sohn eines polnischen Diplomaten und einer der einflussreichsten außenpolitischen Strategen der USA, mahnte, dass Clinton die Stimmen der einflussreichen polnischen Minderheit in den USA verlieren würde, wenn er Polen nicht in die Nato ließe. So schilderte es knapp 20 Jahre später der Journalist Andrew Cockburn unter Berufung auf einen Clinton-Mitarbeiter. Brzezinskis Vorstoß sei damals im Weißen Haus „allgemein bekannt“ gewesen. Und er erscheint wenig überraschend, hatte der Stratege doch bereits im Vorjahr in der Zeitschrift „Foreign Affairs“, dem Zentralorgan des außenpolitischen Establishments der USA, ein Papier mit dem Untertitel „Wie man die NATO erweitern kann“ veröffentlicht.
Brzezinskis Hinweis gab Clinton zu denken. Polnischstämmige Amerikaner bildeten tatsächlich eine maßgebliche Wählergruppe, insbesondere in einigen besonders wahlentscheidenden Staaten des mittleren Westens. Genau dieses Wählerpotenzial versuchte sein republikanischer Gegenkandidat Bob Dole zu gewinnen, in dem er seinerseits eine Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns in die Nato versprach und dafür auch einen Termin nannte – 1998 –, was Clinton bis dahin vermieden hatte. Dole baute Druck auf und beschuldigte Clinton, die Nato-Erweiterung zu verzögern. Unter diesem Eindruck, kurz nach Brzezinskis Fingerzeig und wenige Tage vor der Wahl positionierte sich der Präsident im Oktober 1996 erstmals klar: Die Nato werde bis 1999 die ersten Neumitglieder aufnehmen. Gemeint waren Polen, Tschechien und Ungarn.
So begann es. Mitten in einer Zeit der Abrüstung, des Friedens und der Annäherung wurde beschlossen, das Militärbündnis in Richtung Moskau vorrücken zu lassen, ohne jede Not, ohne greifbaren politischen Nutzen, dabei aber eine Dynamik in Gang setzend, die ein Vierteljahrhundert später zum Krieg in der Ukraine führen sollte und die nun in einem atomaren Schlagabtausch zu gipfeln droht, der zu Millionen Toten in Europa führen könnte.
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„Jazz ist nicht tot. Er riecht nur komisch“ (Frank Zappa)
Axel Klopprogge: Mani lebt!
Im Jahre 1255 fand Erstaunliches statt im fernen Karakorum, der Residenz der mongolischen Großkhane, die damals den größten Teil des eurasischen Kontinents beherrschten. Am Hof befanden sich Vertreter aller Völker, Kulturen, Religionen und Sekten des größten Reiches der Geschichte – und der Franziskanermönch Wilhelm von Rubruk als Gesandter des Papstes.
Wie bei Hofe üblich gab es auch in Karakorum Eifersüchteleien. So entstand eines Tages heftiger Streit, welche Religion dem Großkhan Möngke am liebsten sei. Dem Khan kam dieser Zank zu Ohren und er lud zu einem Religionsgespräch ein. Muslime verschiedener Richtungen, Juden, nestorianische, orthodoxe und katholische Christen, Buddhisten verschiedener Richtungen, Taoisten und andere sollten miteinander diskutieren – ein globales Religionsforum 500 Jahre vor Lessings Nathan. Obwohl gerade der sechste Kreuzzug stattfand, machte Wilhelm von Rubruk den Moslems, Juden und anderen christlichen Konfessionen einen überraschenden Vorschlag: Wir, die wir an denselben einen Gott glauben, sollten vor dem Khan nicht gegeneinander streiten, sondern mit einer Stimme sprechen. Der Vorschlag fand Zustimmung und man verabredete sich zu einem Vorbereitungsworkshop.
Dort zitieren Moslems, Juden und andere Christen sofort wild durcheinander Suren aus dem Koran und Verse aus dem Alten und Neuen Testament, um die Überlegenheit und Alleinstellung ihres Gottes und die drohende Verdammnis aller Nichtgläubigen zu beweisen. An genau dieser Stelle interveniert der scholastisch gebildete Wilhelm: Aus Werken zu zitieren, an die die anderen gar nicht glauben, sei vollkommen wertlos. Wenn man andere überzeugen wolle, dürfe man nur diejenigen Argumente verwenden, die der andere akzeptiert. Rubruk führt dann einen solchen Beweis vor, und man beschließt einvernehmlich, mit dieser Methode beim Großkhan anzutreten.
Natürlich wird die Ausführung schon wegen der Sprachprobleme weniger glorreich gewesen sein, als Rubruk es schildert, und ohnehin endet die Audienz wie üblich in einem allgemeinen Besäufnis. Aber dies ändert nichts an Absicht und Methode. Was Rubruk anwendet, ist die an den jungen europäischen Universitäten praktizierte Methode des rationalen Disputs. Wir lästern heute gerne über die Gottesbeweise, die dort immer wieder exerziert werden. Aber im Gottesbeweis lässt sich der gläubige Christ auf einen Dialog ein mit jemandem, der in seinen Augen das denkbar Schlimmste verkörpert, nämlich mit einem Menschen, der Gott leugnet. In diesem Dialog gelten keine Glaubenssätze, keine heiligen Schriften, keine gefühlten Gewissheiten, keine Berufung auf unfehlbare Autoritäten, nicht die den Ungläubigen drohende Verdammnis, sondern nur die Argumente, die der andere anerkennt. Die Diskussion beginnt, als ob es Gott nicht gäbe.
Niemand kann widerlegt werden außer aufgrund des Zugestandenen, und er darf nur durch das überzeugt werden, was er annimmt.
Nur wenige Jahre zuvor hatten die Mongolen Europa in bisher nicht gekannter Weise bedroht und wurden tatsächlich als Völker der Endzeit gedeutet. Jetzt sucht man die Brücke zu ihnen und den anderen dort versammelten Religionen. Man redet mit ihnen, man isst und trinkt mit ihnen. Das ist nicht selbstverständlich.
Und es geht auch anders.
Der Perser Mani schuf im dritten Jahrhundert eine neue Religion, die sich von Rom bis China verbreitete. Die Lehre basiert auf einem radikalen Dualismus, dem Gegensatz von Licht (Gut) und Finsternis (Böse). Die Anhänger dieses Glaubens, die Manichäer waren in „Hörer“ und „Erleuchtete“ geteilt. Der
Manichäismus beinhaltet eine heilsgeschichtliche Entwicklung: In einer vergangenen Zeit waren Gut und Böse vollständig separiert. (...)
„In der Gegenwart“, so heißt es bei Wikipedia über den Manichäismus, „wird der Begriff verwendet, um Ideologien zu kennzeichnen, die die Welt ohne Zwischentöne in Gut und Böse einteilen, wobei sie den Feind zum existenziell bedrohlichen, wesenhaft Bösen stilisieren.“
(...)
Vor über 200 Jahren schrieb der Philosoph Friedrich Wilhelm Schelling über den „absoluten Dualismus von Gut und Böse“:
Diese ganze Ansicht dient zwar in der Kritik als ein mächtiges Alexander-Schwert, um überall den gordischen Knoten ohne Mühe entzweizuhauen, führt aber in die Geschichte einen durchaus illiberalen und höchst beschränkenden Gesichtspunkt ein.
Ein argumentativer Wettbewerb mit offenem Ausgang ist im dualistischen Weltbild nicht vorgesehen, erst recht kein gemeinsames Mahl oder Besäufnis mit den Horden des Bösen. In den Augen der Erleuchteten reicht schon die Bekanntschaft mit jemandem aus dem Reich der Finsternis, um auf ewig mit dem Makel der Kontaktschuld befleckt zu werden. Gottseidank wird im neuen Manichäismus diese Unreinheit nicht durch Geld übertragen. Während Judas noch konservativ Reue empfand und die dreißig Silberlinge den Hohepriestern zurückbrachte, die sie aber als „Blutgeld“ nicht haben wollten, folgen die progressiv Erleuchteten dem Prinzip „Geld stinkt nicht“ und nehmen Steuergelder und Rundfunkgebühren gnädigerweise auch von den Unreinen jenseits der Brandmauern an.
„Jazz ist nicht tot. Er riecht nur komisch“, ruft Frank Zappa auf dem legendären Live-Album „Roxy & Elsewhere“ von 1974. Offenbar ist auch der Manichäismus noch nicht tot. Aber gut riechen tut er auch nicht.
Fundstück im Opablog:
Neun Punkte auf dem russischen Denkzettel – ODER – Botschaft an die Deutschen!
Diese Botschaft kam nicht direkt aus Moskau.Wir werden niemals bei Euch einmarschieren, selbst wenn Ihr darum auf Knien betteln würdet. Die Gründe dafür kann jeder in Deutschland nachvollziehen, der noch nicht verpeilt und deshalb einigermaßen bei klarem Verstand ist.
Verfasst hat sie ein Rechtsanwalt aus Dresden, der über Verständnis gleichermaßen für Deutsche wie Russen verfügt. Übermittelt wurde sie von den bundesweit geschätzten Aachener Friedensaktivisten Helene und Ansgar Klein.
Dem Verfasser und den Übermittlern herzlichen Dank für ihre erhellende Botschaft in unserer Zeit der wieder frech und machtgierig trommelnden deutschen Dunkelmänner.
Erstens:
Ihr seid schon mit 2,5 Billionen Euro verschuldet und kein seriöser Ökonom hat eine Idee, wie man das je zurückzahlen kann. Jetzt wollt Ihr noch eine Billionen draufpacken. Soll etwa das russische Volk die Rückzahlung der 3,5 Billionen Euro mit seiner Lebensqualität bezahlen? Niemals!
Zweitens:
Euer Land hat Millionen Migranten angelockt und tut dies weiter, obwohl diese fremden Menschen bereits jetzt 50 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Soll etwa das russische Volk dafür haften?
Drittens:
Ein beträchtlicher Teil Eurer Bevölkerung ist so verpeilt, dass sie denken, Deutschland mit lächerlichen 0,0007 % der Erdoberfläche könnte das Weltklima beeinflussen, vielleicht indem die Menschen in Deutschland Fahrrad fahren und Würmer essen. Vielleicht lässt sich dieser massenhafte menschliche Dachschaden in Deutschland noch reparieren, aber warum sollten gerade wir das versuchen?
Viertens:
Euer deutsches Bildungssystem war mal vorbildlich in der Welt, egal ob das der BRD oder der DDR. Manche Staaten auch im Westen haben das System der DDR kopiert. Jetzt findet in vielen Klassen praktisch kein Unterricht statt, weil kaum noch jemand die deutsche Sprache als Unterrichtssprache beherrscht. Selbst einige Eurer Abiturienten beherrschen weder die Grundrechenarten zufriedenstellend, noch können Sie einen einfachen Text lesen, der aus mehr als einem Satz besteht, geschweige denn diesen Text begreifen. Die notwendigen Investitionen in Euer Bildungssystems wären uns zu zu teuer und auch deren Erfolge wären wegen der schlechten Allgemeinbildung Eurer Schüler und Studenten fraglich. Warum sollten wir dies auch versuchen?
Fünftens:
Eure Infrastruktur zerbröselt und Ihr kommt mit den Reparaturen nicht ansatzweise hinterher. Eure Infrastruktur, viele Brücken, Schulen und Straßen sind marode. Warum sollten wir die exorbitanten Kosten der Reparaturen tragen?
Sechstens:
Eure Eisenbahn, deren Pünktlichkeit wurde einst von der Welt bewundert. Jetzt fahren Eure Züge in etwa so pünktlich und so oft wie die in Timbuktu im Staate Mali. Und das ist sicher afrikanisches Dritte-Welt-Niveau.
Siebentens:
Selbst Eure einstmals weltweit gepriesenen Ingenieure und Maschinenbauer brauchen wir nicht. Während Eurer freundlichen Sanktionen haben wir gelernt, ohne diese auszukommen. Und wenn wir Bedarf haben, wenden wir uns an die Volksrepublik China. Dort sind Techniker inzwischen nicht nur günstiger zu haben, sondern sie sind auch besser als Eure.
Achtens:
Nennenswerte Rohstoffe habt Ihr auch nicht. Was wollt Ihr uns wirklich bieten?
Neuntens:
Wir besitzen 17,1 Millionen Quadratkilometer der Erdoberfläche. Ihr besitzt 357.000. Das sind lächerliche 2 % unserer Fläche. Meint Ihr wirklich, wir wären wegen dieser lächerlichen Fläche auf Eure vielen Probleme und Eure verpeilten Landsleute und Eure Migranten scharf?
Warum also sollten wir Euer Land erobern? Wollt Ihr Menschen in Deutschland diesen Unfug wirklich glauben?
Wir kommen zu Euch, um endlich einmal Probleme zu haben, die wir sonst niemals hätten, nicht kennen, nicht wollen?
Macht Euch keine Hoffnung, habt auch keine Sorge: Auch wenn Ihr weiße Fahnen heraushängt, wir werden nicht zu Euch kommen!
Günther Burbach: Das neue Normal: Dauerkrise als Regierungsstil
Fazit: Demokratie im Dauerstress – oder der langsame Tod der Normalität
Am Ende dieses Weges steht kein Putsch, kein martialisches Trommeln, kein offener Staatsstreich. Am Ende steht ein Land, das sich Schritt für Schritt an seine eigene Unfreiheit gewöhnt hat und sie Krise nennt. Es sind nicht die Panzer, die Demokratien zerlegen, sondern die Paragrafen. Nicht der Befehlston, sondern der beruhigende Tonfall, mit dem man erklärt, „es sei alles zu unserem Schutz“.
Deutschland steht heute an einem Punkt, an dem sich sein Verhältnis zu Freiheit und Sicherheit neu sortiert. Die vergangenen Jahre haben eine gefährliche Lektion gelehrt: Je mehr Angst herrscht, desto größer ist die Bereitschaft, Macht zu delegieren, an Experten, Kommissionen, Sicherheitsräte. Was als Vorsorge begann, ist zu einer Ideologie geworden: Sicherheit als höchste Moral. Doch eine Gesellschaft, die sich der Sicherheit verschreibt, bezahlt mit etwas, das man nicht zurückbekommt, mit Vertrauen.
Das Vertrauen der Bürger, dass der Staat nicht jedes Problem mit Zwang löst. Das Vertrauen der Regierung, dass der Bürger vernünftig handeln kann, ohne überwacht zu werden. Und das Vertrauen zwischen den Menschen, das durch Dauerangst zersetzt wird. Wo Angst regiert, stirbt Solidarität.
Die Zivil-Militärische Zusammenarbeit 4.0, das Grünbuch ZMZ, die Spannungsfall- Rhetorik, sie alle sind keine isolierten Erscheinungen, sondern Bausteine eines neuen Paradigmas. Ein Staat, der seine Bevölkerung systematisch auf Krisen programmiert, produziert Untertanen, keine Bürger. Und ein politisches System, das sich an Ausnahmezustände gewöhnt, verliert irgendwann die Fähigkeit, Normalität zuzulassen. Der Übergang ist kaum sichtbar: ein Erlass hier, ein Gesetz dort, eine kleine Kompetenzverschiebung, bis am Ende niemand mehr sagen kann, wann das „Vorübergehende“ begonnen hat, dauerhaft zu werden.
Noch ist nichts verloren. Die Bundesrepublik hat starke Institutionen, ein Verfassungsgericht, kritische Journalisten, wachsame Bürger. Doch all das nützt nichts, wenn die Gesellschaft selbst abstumpft, wenn sie glaubt, Freiheit sei verhandelbar, solange man sie in Raten abgeben kann. Die entscheidende Verteidigungslinie verläuft nicht an den Außengrenzen, sondern im Inneren: in der Bereitschaft, jede neue „Notwendigkeit“ zu hinterfragen, bevor sie Gesetz wird.
Es braucht keine Revolution, um die Demokratie zu retten. Es braucht nur ein kollektives Nein, ein Nein zu der Vorstellung, dass Sicherheit ohne Freiheit möglich ist.Denn ein Staat, der sich in permanenter Spannung hält, verlernt zu leben. Und eine Gesellschaft, die diese Spannung akzeptiert, wird irgendwann glauben, dass Normalität selbst gefährlich sei.
Dominik Pietzcker: Europa ohne Kompass: Wie ein Kontinent seine Zukunft verspielt
Was ist eigentlich Europa? Wenn man all die Theaterkulissen, die vollmundigen Überhöhungen als europäische Wertegemeinschaft, die selbstreferenzielle Berufung auf das griechisch-römische Erbe und die Beschwörung der christlich-abendländischen Tradition einmal beiseiteschiebt, präsentiert sich Europa in der Lebensrealität seiner heutigen Bewohner eher unglamourös als ein Lifestyle der ungenutzten Möglichkeiten. Europa verkörpert weniger eine schlüssige politische Idee als vielmehr einen Lebensstil, einen way of life. Wie lässt sich dieser umschreiben? Selbstbezüglich und bequem, verwöhnt und moralisierend, überheblich und weltfremd. Es ist unwahrscheinlich, dass dieses Lebensmodell auch in Zukunft erfolgreich fortgeführt werden kann.
Der European way of life ist ein Caffè Latte aus Hafermilch und nachhaltig angebauten Kaffeesorten, zugleich magenfreundlich und angenehm stimulierend. Nur keine Bitterstoffe!
Es geht weiter im Text in kabarettistischem Stil eines Dieter Nuhr; wer das mag, kann im Originaltext weiterlesen. Interessanter ist der Schluss des Artikels hier:
Die europäischen Staaten sind weit davon entfernt, gemeinsam eine Weltmacht darzustellen. Entsprechend geringschätzig werden sie neuerdings vom Rest der Welt wahrgenommen und behandelt.
Die Abrissbirne aus Amerika
Der rapide Ansehensverlust Europas hängt auch mit dem grobianischen Auftreten Donald Trumps zusammen. Der letzte Triumphator der westlichen Welt macht keinen Hehl daraus, was er wirklich über die Europäer denkt. Als Zuschauer des politischen Medienspektakels muss man bloß vergleichen, welchen Respekt Trump den Staatsführern Russlands und Chinas entgegenbringt und welch Bild der Ohnmacht dagegen die verzwergten europäischen Staatschefs in Washington hinterlassen. Kommissionspräsidentin von der Leyen – ist sie nicht die mächtigste Frau Europas? – wird einfach auf einen privaten Golfplatz Donald Trumps einbestellt und darf dort Strafzölle abnicken. An diese Form der Behandlung werden sich Europäer gewöhnen müssen – allein schon deswegen, weil sie es sich gefallen lassen. Bei diesen Bildern lernt man wieder, was Schamgefühl bedeutet, das unfreiwillige Beiwohnen der eigenen Unwürdigkeit.
Diese neue Realität der europäischen Demütigung wird selbstverständlich auch außerhalb der westlichen Welt genau registriert. Die Vereinigten Staaten haben die europäische Sicherheitsordnung nach 1945 aufgebaut und garantiert – jetzt sind sie dabei, diese wieder einzureißen. Darauf war Europa wahrlich nicht vorbereitet und steht nun ziemlich rat- und orientierungslos da. Die Hektik der Krisengipfel und Konsultationen täuscht nicht darüber hinweg, wie uneinig, unorganisiert und unstrukturiert Europa nach außen auftritt. Wie konnte man über so viele Jahrzehnte so naiv sein?
Hedonismus als Lebensprinzip
Das heutige Europa ist ein Kind der 1990er-Jahre. In diesem Jahrzehnt wurden die gegenwärtigen europäischen Entscheider sozialisiert. Es waren die sorglosen Jahre des westlichen Triumphs über das sowjetische Gegenmodell. Nicht von ungefähr boomte auch das hedonistische Nachtleben. Investmentbanker tanzten bis ins Morgengrauen im Frankfurter Dorian Gray, schwäbische Automobilmanager mieteten den Perkins Park für die Geburtstagspartys ihrer Töchter, und im Herzen Europas, in Berlin, schlug mit Techno der neue Beat des zu Ende gehenden Jahrhunderts. Experimentell und langweilig zugleich erlebte Europa seine ökonomische und popkulturelle Hochblüte.
Die Exportindustrien boomten, westliche Marken, Managementmodelle und Kunstwerke wurden weltweit zu ikonischen Kulturgütern erhoben. Das europäische Verständnis von staatlicher, wirtschaftlicher und moralischer Ordnung entfaltete eine enorme Strahlkraft nach außen. Das alles war natürlich nur eine Projektion, wenn auch eine temporär höchst wirksame. Die Europäer glaubten (und glauben bis heute) ihrer eigenen Erzählung von ökonomischer Dominanz und gesellschaftlicher Offenheit. Diese Gewissheit hat sich tief in die europäische Mentalität eingeschrieben. Das liberale Zeitalter ist beerdigt worden, ohne dass es die Europäer bemerkt hätten.
Genau diese Blindheit ist Teil des heutigen Problems. Europa klammert sich an die Erfolge der Vergangenheit und droht dabei, seine Zukunft zu verlieren. Die Grundhaltung lautet: Was gestern funktioniert hat, kann doch nicht heute auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden. Doch, kann es – und sollte es sogar dringend.
Geliebtes Europa, so herbstlich und so desolat! Die Strategiepapiere aus Thinktanks, Ministerien und Konzernzentralen haben eines gemeinsam, es fehlt ihnen an Schonungslosigkeit in der Analyse und Überzeugungskraft in der Umsetzung. Ihre Prämisse ist der Standpunkt eigener Stärke, diese jedoch ist längst verloren gegangen. So wirken alle Empfehlungen und Szenarien wie Herbstlaub, von bunter Tönung, doch ohne Vitalfunktion.
Rückblickend wäre mehr drin gewesen als der Kontinent der Angst, als der sich das heutige Europa präsentiert. Die Verantwortung und die Folgen für die Blindheit, Konzeptlosigkeit und Weltfremdheit, die uns in die aktuelle Sackgasse manövriert haben, tragen wir jedoch selbst.
Jochen Mitschka: Qualitäts-Fake-News erkennen
Fake-News werden von „Faktencheckern“ ja nur in „umstrittenen“ Internetseiten gefunden. Aber Tatsache ist, dass die schlimmsten Fake-News von Qualitätsmedien verbreitet wurden und mitverantwortlich für den Tod von Millionen Menschen sind.
Ich hatte vor geraumer Zeit gemeinsam mit Tim Anderson ein Essay verfasst, das helfen sollte, Fake-News zu erkennen, wenn sie von Qualitätsmedien und Politik verbreitet werden. Bis heute hält sich z.B. sogar auch bei Befragung von Grok die Aussage, „Assad hat sein Volk vergast“. Aus zwei Gründen wurde das Buch schließlich nicht veröffentlicht. Erstens wurden die Fake-News immer einfacher durchschaubar, und zweitens waren die Ressourcen des herausgebenden Vereins beschränkt, und wichtigere Projekte gerieten in den Vordergrund. Hier nun aber nur das Nachwort, welches vielleicht ein bisschen wieder in Erinnerung ruft, womit wir es zu tun haben.
Projektion
Anstelle eines Nachworts, hier eine Erklärung aus der Psychoanalyse. Projektion nennt man in der Psychologie das Verhalten, wenn man anderen Menschen Eigenschaften, Schwächen oder Probleme zuschreiben, die man selbst offen oder versteckt in sich trägt. Politik und Medien sind besonders aktiv darin. Ein zu offensichtliches Beispiel konnte man am 14. März 2020 auf Twitter lesen. Dort veröffentlichte das Bundesministerium für Gesundheit folgenden
Tweet:
„Rotes Ausrufezeichen -Achtung Fake News Rotes Ausrufezeichen“

Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit / die Bundesregierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“ [1]
Aber schon am 22. März, also nur 8 Tage später, wurde die angebliche Fake-News zu Regierungshandeln, und der erste Corona-Lockdown trat in Kraft. Es wurde zwar keine allgemeine Ausgangssperre verhängt, aber ein Kontaktverbot erlassen.
Nun war also die Nachricht vom 14. März eine Fake-News geworden. Aber das waren ja nur die harmlosen Beispiele.
Wenn man zurückblickt zur Vogelgrippe oder zur Schweinegrippe, erkennt man, welche riesigen Fake-News Regierungen in die Welt setzten, und Medien weitgehend kritiklos verbreiteten. Bis arte im November 2009 endlich Aufklärung betrieb:
„Ein lebensgefährlicher Virus scheint seit Mai 2009 die Menschheit zu bedrohen. Seit die ersten Fälle der so genannten Schweinegrippe in Mexiko gemeldet wurden, steht die Welt Kopf. Jeden Tag sterben angeblich mehr und mehr Menschen an dem vermeintlich neuen Virus. Doch Experten und Politiker wie Wolfgang Wodarg bezweifeln, dass das stimmt: ‚Diese Viren sind jetzt nicht gefährlicher als schon im letzten Jahr. Die WHO spielt die Zahlen hoch und macht unnötig Panik. Die Entscheidung für eine Pandemie war unsinnig‘.
Im Juni ruft die WHO die erste Influenza-Pandemie des 21. Jahrhunderts aus, obwohl schon bald feststeht, dass der H1N1 Erreger in seiner jetzigen Form harmlos ist. Steht die Entscheidung der Weltgesundheitsorganisation im Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung? Oder schürt sie einfach nur Angst und Hysterie? Reagieren die Behörden verantwortlich oder ist ihr Verhalten von Panik geprägt? Wer profitiert von der Krankheit? Jutta Pinzler und Stefanie Schwalfenberg haben Vertreter der WHO, Politiker, Wissenschaftler, aber auch Pharmavertreter danach gefragt.
Nach Ausrufung der Pandemie durch die WHO beginnt ein großer Medikamentenkaufrausch. Weltweit decken sich Regierungen mit Grippemitteln ein und bestellen für Milliarden Impfdosen. Grippemittel, deren Wirkung fraglich ist und Impfdosen, von denen Kritiker behaupten, dass sie nicht ausreichend getestet seien.“ [2]
Aber noch schlimmer war das Verbreiten von Fake-News bei der Vorbereitung und Durchführung von Kriegen. Man erinnere sich nur an die neuesten Fake-News in Verbindung mit der Bombardierung Libyens. Nachdem das Land in Schutt und Asche bombardiert worden war, und das reichste und sozial fortschrittlichste Land des Kontinents im Chaos versank, wo es bis heute verbleibt, während Terrorismus von Boko Haram profitierte, stellte die Bundesregierung nüchtern fest, dass es keine eindeutigen Anhaltspunkte dafür gab, dass Gaddafi seine Zivilbevölkerung ermorden wollte. Was aber der Grund für die Bombardierung und Tötung von zehntausenden von Menschen war.
Wolfgang Bittner: Ist Deutschland souverän? Kann Deutschland neutral werden? Versuch einer Klärung
Was hat es mit dem immer öfter zu hörenden Ruf nach einem bündnis- und blockfreien Deutschland auf sich? Könnte das heutige Deutschland tatsächlich aus der NATO austreten? Bestehen dafür die Voraussetzungen, und zwar nicht nur auf dem Papier? Wie souverän ist also das Land in der Mitte Europas?
Jüngst ist der Ruf nach einer Neutralität Deutschlands aufgekommen, die bereits 1952 von Josef Stalin vorgeschlagen worden war. Damals hatte er den anderen drei Hauptsiegermächten des Zweiten Weltkriegs das Angebot unterbreitet, über einen Friedensvertrag mit Deutschland zu verhandeln. Bedingung war die Neutralität eines künftigen vereinten Deutschlands gewesen, die unter polnischer Verwaltung stehenden Ostgebiete ausgenommen. Da zur selben Zeit unter der Regierung Adenauer in Geheimverhandlungen bereits die Wiederbewaffnung und der Beitritt zur NATO beschlossen worden waren, hatten die westlichen Alliierten den sowjetischen Vorschlag boykottiert. Auch Konrad Adenauer hatte ihn als unseriöses "Störmanöver" zurückgewiesen, mit dem die Westintegration der BRD blockiert werden sollte, und damit die Chance für eine selbstbestimmte deutsche Politik vergeben.
Stattdessen blieben die beiden deutschen Relikte, denen von den Siegermächten nach der bedingungslosen Kapitulation die Souveränität aberkannt worden war, unter Fremdbestimmung, die erst nach und nach gelockert wurde. Nach herrschender Meinung erhielt dann die Bundesrepublik Deutschland als "mit dem Deutschen Reich identisches Völkerrechtssubjekt" durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 die "volle Souveränität" zurück (Artikel 7, Absatz 2), sodass – theoretisch – eine Neutralität Deutschlands heute erreichbar wäre.
Das ist die offizielle Faktenlage. Aber die Zubilligung der Souveränität ist durch Zusatzverträge, zum Beispiel den Truppenstationierungsvertrag, die NATO-Mitgliedschaft, das Militärbündnis für "Ständige Strukturierte Zusammenarbeit" (PESCO), sonstige militärische und wirtschaftliche Vereinbarungen sowie die übergeordnete EU-Gesetzgebung relativiert worden. Insbesondere der außenpolitische Handlungsspielraum ist aufgrund der alliierten Vorbehaltsrechte und Einflussmöglichkeiten eingeschränkt.
Zwar können Abkommen wie der Truppenstationierungsvertrag oder der NATO-Vertrag gekündigt werden, Deutschland könnte auch aus der EU austreten, es ist jedoch außerordentlich fraglich, ob eine deutsche Regierung diesen Schritt wagen würde bzw. sich gegenüber den USA und Großbritannien behaupten könnte. Bekannt ist außerdem, dass sich die USA an keine Verträge halten, sobald sie ihrer jeweiligen Regierung nicht mehr passen.
Im Völkerrecht ist Souveränität nach älterer Rechtsauffassung die absolute Hoheit eines Staates über sein innen- und außenpolitisches Handeln. Das ist für Deutschland erkennbar nicht gegeben. Doch nach neuerer völkerrechtlicher Auffassung kann ein Staat durch Verträge mit anderen Staaten von bestimmten Rechten absehen, also eine Einschränkung seiner Souveränität selbstbestimmt vornehmen. Das könnte für Deutschland infrage kommen. Allerdings sind verschiedene Einschränkungen, denen Deutschland unterliegt, nicht
selbstbestimmt.